Antisemitismus als soziales Phänomen in der Institution Schule
Wie zeigt sich Antisemitismus an Schulen in NRW? Dazu forscht eine interdisziplinäre Projektgruppe der Ruhr-Universität Bochum – erste Projektergebnisse.
[Schule NRW 05-22]
Antisemitismus gehört auch in Nordrhein-Westfalen zum schulischen Alltag. In einer Umfrage aus dem Jahr 2020, die sich im Auftrag der Antisemitismusbeauftragten des Landes, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, mit Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen beschäftigte, gaben nahezu alle Befragten an, dass es insbesondere in schulischen Kontexten wiederholt zu antisemitischen Vorfällen komme: Dazu zählen Bedrohungen und Beleidigungen, oft aber auch die offene Artikulation antisemitischer Überzeugungen und Vorstellungen.
Antisemitische Vorfälle stellen ebenso wie antisemitische Vorstellungen eine große Herausforderung nicht nur für die pädagogische Auseinandersetzung, sondern auch für die Schulen als Institutionen sowie die Schulgemeinschaft als sozialen Raum dar. Es reicht für Schulen nicht mehr aus, den Blick nur auf Vorfälle zu lenken. Die heutige Aufgabe besteht darin, die Wechselwirkungen zwischen Medien und vermeintlichem Wissen, Vorurteilen und sozialen Handlungsräumen zu erkennen – in allen Bereichen des schulischen Lebens. Es zeigt sich ein hoher Handlungsbedarf, der die Institution Schule in ihrer Gesamtheit betrifft.
Interdisziplinäres Forschungsprojekt
Das hier vorgestellte, vom Ministerium für Schule und Bildung NRW und der Antisemitismusbeauftragten des Landes NRW finanziell geförderte Projekt widmet sich konkret der Frage, wie Antisemitismus im schulischen Raum deutlich wird. Das interdisziplinäre Team der Ruhr-Universität Bochum blickt aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive darauf, wie Antisemitismus als Unterrichtsgegenstand behandelt wird. Dadurch wird die Aufmerksamkeit besonders auf die Situationen des Unterrichts gelenkt. Unterschiedliche Fragestellungen sind wesentlich: Welche Rolle spielen der schulische Kontext und die Unterrichtssituation bei der Rekonstruktion antisemitischer Vorstellungen? In welchen Momenten werden relativierende Äußerungen deutlich oder sogar herausgefordert? Welche Interaktionssituationen lassen Antisemitismus unbeantwortet?
Die beiden fördernden Institutionen habe sich gezielt für die Unterstützung des Bochumer Projekts entschieden. Bis zum Ende des Forschungsprojektes im August 2023 will das Forschungsteam der Frage nachgehen, warum der schulische Ort möglicherweise nicht nur ein ‚Spiegel‘ des gesellschaftlichen Antisemitismus ist. Mit längerfristigen, qualitativen Beobachtungs- und Untersuchungsmethoden forscht das Projekt dazu, inwieweit antisemitische Vorstellungen heute signifikante Funktionen in den sozialen Ordnungen von Schulklassen erfüllen und in welcher Weise antisemitische Stereotypen von Schülerinnen und Schülern mit vermeintlichem Wissen begründet werden. Dabei gilt es unter anderem, die Frage nach den Wissensquellen zu stellen. Hier geht es auch um die Bilder ‚des Jüdischen‘, die im Unterricht erarbeitet und vermittelt werden. Die Forschung, die daher konzentriert nach den Beziehungen zwischen Lehrerinnen und Lehrern, Lehrmaterialien, Schülerinnen und Schülern fragen, widmen sich den schulischen Situationen selbst, um Aussagen und Rückschlüsse hinsichtlich der Bedeutung von Antisemitismus im schulischen Alltag treffen zu können.
Um Antworten zu finden, gilt es, Fragen an die Schule als Lebensraum zu stellen: Wie sieht gegenwärtig der Unterricht zum Themenfeld Antisemitismus aus? Wie wird Antisemitismus verstanden? Wie zeigt sich Antisemitismus beziehungsweise antisemitisches Denken als Ergebnis von Wissensstrukturen, die als Voraussetzung für Ausgrenzung, Diskriminierung und schließlich Gewalt benannt werden können? Gibt es Beobachtungen, die spezifisch für NRW auffällig sind? Die ersten Ergebnisse bestätigen bereits die Ausgangsvermutung, dass Antisemitismus einen Ort im Unterricht hat und es deutlich erkennbare Risiken gibt, antisemitische Haltungen zu (re)produzieren.
Unterricht begleiten und auswerten
Dank der engagierten Kooperationen von Lehrerinnen und Lehrern sowie Schulen in NRW (Gymnasien, Gesamtschulen, einer Sekundarschule und einem Berufskolleg) ist es im Rahmen der Forschungsarbeiten möglich, Unterrichtseinheiten vor Ort zu begleiten und Unterrichtssituationen direkt zu beobachten. Die Unterrichtsbeobachtungen werden auf der Basis eines für das Projekt entwickelten Beobachtungsdesigns durchgeführt und anschließend aus soziologischer und sozialpsychologischer Perspektive ausgewertet. An die systematische Erfassung von Unterrichtssituationen in der derzeit noch laufenden Erhebungsphase schließt sich die Phase der sequenzanalytischen Interpretation an. Ausgewählt wurden einzelne Stunden und vollständige Unterrichtseinheiten, in denen antisemitismusaufarbeitendes Wissen vermittelt, dargestellt und diskutiert wird. Methodisch bedeutet dies, dass zunächst ein Zugang zum Unterricht entwickelt werden musste, der die gesamte Unterrichtssituation in den Blick nimmt und nicht nur eine nachträgliche Darstellung ‚aus zweiter Hand‘ ermöglicht. Das Forschungsinteresse gilt den Vermittlungen des Lehrmaterials, dem Verlauf wissensbezogener Diskussionen ebenso wie Interaktionen, Reaktionen und Stimmungen bei Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften im Klassenzimmer. Die thematischen Schwerpunkte und Zugänge variieren dabei zwischen den Unterrichtsfächern deutlich, wodurch die Auswahl der Fächer für eine möglichst große Anzahl thematisch relevanter Aspekte von hoher Bedeutung war. Gegenwärtig werden Beobachtungen in den Fächern Wirtschaft-Politik, Sozialwissenschaften, Geschichte, katholische/evangelische Religionslehre sowie Islamkunde durchgeführt. Dabei wird vergleichend Unterricht in unterschiedlichen Schulformen und Jahrgangsstufen erhoben. Dies eröffnet nicht zuletzt die Chance, thematisch unterschiedlich gelagerte Unterrichtseinheiten zu untersuchen, die verschiedene Schwerpunkte curricular definierter Felder berühren. Thematisch geht es beispielsweise um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die Frage nach Judenfeindschaft in der Geschichte, religiöse Identität, Begegnungen mit jüdischem Leben im Religionsunterricht oder den Nahostkonflikt in den sozial- und politikwissenschaftlich ausgerichteten Fächern.
Auf der Basis der Analyse sollen fundierte Aussagen darüber möglich werden, wie Antisemitismus auch im Unterricht auftreten kann. Welche Risiken sollten Lehrerinnen und Lehrer sehen, welche leitenden Handlungsempfehlungen können gegeben werden? Daher ist der Forschergruppe wichtig, nicht bei einer theoretischen Forschung stehenzubleiben, sondern die Forschungsergebnisse auch direkt wieder in die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien zu überführen, die unter Berücksichtigung der curricularen Anbindung an Inhalte und Kernkompetenzen der Kernlehrpläne in den Unterricht eingebracht werden können. Durch dieses Vorgehen wird gewährleistet, dass nicht nur inhaltliche Fragen einen Ort finden. Da Unterricht immer auch eine soziale Situation ist, will das Projekt Erkenntnisse für den Umgang mit kritischen Interaktionen erarbeiten und Handlungsoptionen bieten. Die Ergebnisse der Studie sowie die erarbeiteten Unterrichtsmaterialen werden nach Abschluss des Projekts veröffentlicht, aber auch in Schulen vorgestellt und in die Lehreraus- und -fortbildung eingehen.
Zum Weiterlesen
Becker, M. J. (2020). Beobachtungen zu Religion, Demokratie und Antisemitismus an Schulen. Erfahrungen von Lehrkräften in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Berlin: American Jewish Comittee/Berlin Ramer Institute.
Bernstein, J. (2020). Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Analysen – Befunde – Handlungsoptionen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Chernivsky, M. & Lorenz, F. (2020). Antisemitismus im Kontext Schule – Deutungen und Umgangsweisen von Lehrer*innen an Berliner Schulen. Berlin: ZWST.
SABRA, Bagrut e.V. & Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. (Hrsg.) (2020). Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen. Wahrnehmungen und Erfahrungen jüdischer Menschen. Düsseldorf: Staatskanzlei des Landes NRW.
Salzborn, S. & Kurth, A. (2020). Antisemitismus in der Schule. Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven. In S. Salzborn (Hrsg.), Schule und Antisemitismus. Politische Bestandsaufnahme und pädagogische Handlungsmöglichkeiten (S. 9-65). Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Kontaktmöglichkeiten zu den Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Karim Fereidooni (Juniorprofessur Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung – Ruhr-Universität Bochum)
Anna Katharina Goitowski B.A. (Wissenschaftliche Hilfskraft des Forschungsprojekts – Ruhr-Universität Bochum)
PD Dr. Kristin Platt (Institut für Diaspora- und Genozidforschung – Ruhr-Universität Bochum)
Prof. Dr. Katja Sabisch (Professur für Gender Studies – Ruhr-Universität Bochum)
Sebastian Salzmann M.A. (Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprojekts – Ruhr-Universität Bochum)
StR Teresa Tuncel (Abgeordnete Lehrkraft des Forschungsprojekts – Ruhr-Universität Bochum)
Sebastian Salzmann, M.A.
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Sozialwissenschaft
Juniorprofessur für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung
Universitätsstraße 150
Gebäude GD, Raum 1.225
44801 Bochum
Tel.: (0234) 19692
Mail: sebastian.salzmann[at]rub.de (sebastian[dot]salzmann[at]rub[dot]de)
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