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Demokratiebildung in der Schule. Praxisbeispiele gelungener Demokratiebildung aus der Laborschule Bielefeld

Basis der Demokratiebildung an der Laborschule Bielefeld ist die offene räumliche Struktur.

Demokratiebildung in der Laborschule Bielefeld

Demokratie als Lebensform, Schülerinnen und Schüler als mündige Mitglieder einer Gemeinschaft: Die Laborschule Bielefeld hat ein Konzept entwickelt, um diese Ziele zu verfolgen.

[Schule NRW 06-24]

„Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.“ Diese, auf den US-amerikanischen Pädagogen und Philosophen John Dewey zurückgehende Überzeugung hat sich in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Bezugspunkt der fachöffentlichen Diskussion zum Verhältnis von Schule und Pädagogik entwickelt. Die Idee dahinter: Es genügt nicht, in der Schule die Funktionen, Instrumente und Abläufe der Regierungsform Demokratie kennenzulernen (obwohl auch das selbstverständlich unerlässlich ist), sondern es sollten zugleich Möglichkeiten geschaffen werden, sich in der Schule als mündiges Mitglied einer Gemeinschaft zu erfahren, die Demokratie als Lebensform praktiziert. Wie aber kann ein solcher Anspruch in der Praxis konkret umgesetzt werden? Und das über alle Altersstufen hinweg? Die Laborschule Bielefeld zeigt in diesem Beitrag, wie sie ihren Schul- und Unterrichtsalltag im Hinblick auf diese Fragen gestaltet.

 

Die Laborschule Bielefeld als „Gesellschaft im Kleinen“

Die Laborschule Bielefeld ist eine staatliche Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen und hat als solche den Auftrag, neue Formen des Lehrens und Lernens in der Schule zu entwickeln und zu erforschen. Es handelt sich bei ihr um eine inklusive Schule mit insgesamt 700 Kindern und Jugendlichen der Jahrgangsstufen 0 (Vorschuljahr) bis 10, an der am Ende der Sekundarstufe I alle üblichen Schulabschlüsse vergeben werden. Seit ihrer Eröffnung im Herbst 1974 versteht sich die Laborschule dabei explizit als „Gesellschaft im Kleinen“, in der Kinder und Jugendliche im alltäglichen Umgang erfahren sollen, was es bedeutet, demokratisch miteinander zu leben. Aus diesem Grund hat die Laborschule nicht nur eine Schülerschaft, die von ihrer Zusammensetzung her der Gesamtbevölkerung Bielefelds entspricht, sondern sie hat zugleich eine Vielzahl demokratiepädagogischer Elemente fest in ihren Schul- und Unterrichtsalltag integriert – und dies bereits von Klein auf.

 

Demokratiebildung im Großraum

Eine wichtige Rolle im Demokratiekonzept der Laborschule spielt dabei bereits deren räumliche Gestalt: Als besonders prominente Vertreterin des Prinzips der „Offenen Lernlandschaft“ verzichtete sie nahezu vollständig auf die räumliche Separierung einzelner Gruppen in Klassenzimmern und bemühte sich anstelle dessen um eine gemeinsame Beschulung sämtlicher Schülerinnen und Schüler in einer offenen Lernlandschaft unter einem großen, einheitlichen Dach (siehe Abbildung). Durch diese Raumstruktur soll die skizzierte Idee der Schule als „Gesellschaft im Kleinen“ auch räumlich erfahren werden: indem durch die offene Anlage des Gebäudes eine „zivilisierende“ Öffentlichkeit herstellt wird; indem die gesamte Schulgemeinschaft beim Blick durch den Raum als Ganzes erfahren werden kann; indem eine Vielzahl von Versammlungsmöglichkeiten bereitgestellt wird, in denen sich Gruppen spontan treffen und austauschen können; aber auch indem diverse, gerade auch informelle Begegnungsmöglichkeiten sowohl zwischen Schülerinnen und Schülern als auch zwischen den Generationen ermöglicht werden. Zugleich dient die Begegnung im Großraum ganz konkret der Einübung eines friedlichen Miteinanders: beispielsweise indem akustische Störungen durch andere Gruppen gezielt als Anlass genutzt werden, um mit den anderen „Bewohnern“ des Gebäudes in einen konstruktiven, wertschätzenden Austausch über eigene und fremde Bedürfnisse einzutreten. 

 

Eine Verfassung für die Primarstufe

Einen zentralen Baustein im Demokratiekonzept speziell der laborschuleigenen Primarstufe bildet darüber hinaus die sogenannte „Verfassung“. Diese hält im Detail fest, welche Rechte die Kinder der Laborschule – neben ihren allgemeinen Kinderrechten – in ihrem Schulalltag haben: von Fragen der Essensauswahl in der Mensa über Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unterricht bis hin zur Pausengestaltung. Entwickelt wurde die Verfassung im Rahmen eines partizipativen Prozesses, wobei zunächst die Schülerinnen und Schüler der Primarstufe befragt wurden, in welchen Bereichen sie sich (mehr) Mitbestimmung wünschen. Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse unterzogen die Mitarbeitenden der Primarstufe das bisherige pädagogische Konzept der Laborschule einer systematischen Revision mit Blick auf mögliche nachhaltige Partizipationsfelder und entwickelten so nach und nach eine detaillierte, etwa 20 Seiten umfassende Verfassung, die seit diesem Zeitpunkt als Grundlage für die demokratiepädagogische Arbeit der Primarstufe dient. Durch dieses Vorgehen wurde einerseits ein Klärungsprozess innerhalb des Kollegiums darüber angestoßen, welche Rechte den Kindern innerhalb der Schule als verbindlich zugesichert werden sollten, und anderseits mit der fertigen „Verfassung“ überhaupt erst der Rahmen gesteckt, innerhalb dessen die Kinder der Schule nachhaltige Partizipationserfahrungen machen können. Besonders wichtig war (und ist) es in diesem Zusammenhang, dass den Kindern ihre fest zugesicherten Rechte auch wirklich transparent gemacht werden. Denn erst durch die Kenntnis der eigenen Rechte (im Schulkontext) können diese auch aktiv von Kindern eingefordert und mit Partizipationserfahrungen verknüpft werden.

 

Das Projekt „Herausforderung“

Die Schülerinnen und Schüler der Laborschule organisieren im 8. und 9. Jahrgang eine dreiwöchige außerschulische Projektphase unter dem Titel „Herausforderung“. Die Ideenfindung, Beantragung der Herausforderung und die Planung findet in Schuljahr 8.2 statt. Die Umsetzung und Reflektion der Herausforderungsphase liegt am Anfang des Jahrgang 9. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich für diese Zeit eine Aufgabe in der Welt suchen, die sie persönlich herausfordert und die sie weitestgehend selbstständig planen. Zudem soll diese gesuchte Aufgabe einen sozialen Aspekt beinhalten. Die Laborschule will damit der Lebensphase Jugend/Pubertät/Adoleszenz gerecht werden – einer Zeit, in der sich die Jugendlichen für viele Dinge interessieren, die jedoch meist außerhalb des Erfahrungsfeldes Schule liegen. Die Phase der Herausforderung versucht deshalb, den Jugendlichen Erfahrungen zu ermöglichen, die ihnen einen Bezug zur Welt verschaffen, den sie als bedeutsam erleben. 

 

Stolpersteine

In der Jahrgangsstufe 10 erhalten alle Schülerinnen und Schüler der Laborschule eine Einladung zum Putzen der Stolpersteine in Bielefeld. Diese in Messing gehaltenen dezentralen Gedenksteine für Opfer des Nationalsozialismus müssen regelmäßig von Schmutz gereinigt und poliert werden, damit die biographischen Informationen gelesen werden können. Die Schülerinnen und Schüler melden sich dafür freiwillig. Vorausgegangen sind in diesem Moment bereits unterschiedliche fachliche und überfachliche Projekte zur Bearbeitung des Themas Nationalsozialismus – so etwa ein gemeinsamer Besuch der Gedenkstätte Buchenwald. Nun selber aktiv zu werden, Engagement und Einsatz zu zeigen, etwas Konkretes tun zu können und sich mit den Biographien von Opfern in der eigenen Heimatstadt auseinanderzusetzen, motiviert die Jugendlichen mitzumachen. Häufig melden sich alle oder fast alle Jugendlichen eines Jahrgangs freiwillig. Sie erhalten von der Schule eine Liste mit Adressen der Steine und spezielle Putzpaste für Messing. Das Putzen der Stolpersteine passt zu den pädagogischen Zielen der Laborschule und steht im direkten Zusammenhang mit deren Bildungsidealen. Oder wie Maja, eine Schülerin der 10. Klasse, es formuliert: „Die Laborschule steht genau dafür: Offenheit und Solidarität. Bei den Stolpersteinen geht es ja um die Würde der Opfer und der Menschen. Uns und unserer Schule ist das wichtig, daran zu erinnern – darum mache ich mit und ich denke, darum melden sich so viele freiwillig.“ 

(Weitere Informationen: www.stolpersteine-bielefeld.de)

 

Fazit und Ausblick

Demokratiebildung im Schulalltag ist möglich – und lohnt sich! Dies zeigt sich nicht allein in den oben beschriebenen Erfahrungen und Konzepten, sondern ebenso in zahlreichen weiteren demokratiepädagogischen Elementen, die den Alltag der Laborschule prägen: von Mitbestimmungsmöglichkeiten bei der Auswahl von Unterrichtsinhalten über Schülerparlamente und Gruppenräte bis hin zu Ausflügen in den Landtag NRW. Gleichzeitig gelingt ein solch schulischer Fokus auf Demokratie nur dann, wenn man entsprechende Vorhaben auch ganz gezielt angeht und sich die erforderliche Zeit dafür nimmt. Dafür allerdings braucht es zugleich die Überzeugung, dass eine solche Form der Demokratiebildung nicht irgendein schmückendes Beiwerk schulischer Bildung ist, sondern vielmehr eine ganz zentrale Aufgabe schulischer Bildung in einer demokratischen Gesellschaft.

 

Autorinnen und Autoren: Nicole Freke (Laborschule Bielefeld), Thomas Makowski (Laborschule Bielefeld), Christian Timo Zenke (Universität Bielefeld); Rainer Devantié (Laborschule Bielefeld)