"Der Herzschrittmacher der Beruflichen Bildung"
Welche Rolle spielen die Berufskollegs im nordrhein-westfälischen Bildungssystem? Prof. Dr. Dieter Euler spricht darüber im Interview mit Schule NRW.
[Schule NRW 12-22]
Am 1. Dezember fanden sich rund 120 Vertreterinnen und Vertreter der Beruflichen Bildung im modernen Neubau des Albrecht Dürer Berufskollegs in Düsseldorf Benrath ein. Zum Anlass genommen wurde die im Mai dieses Jahres veröffentlichte Studie zur Rolle der Berufskollegs im nordrhein-westfälischen Bildungssystem.
Schulministerin Dorothee Feller leitete den Nachmittag mit einem Grußwort ein. Sie betonte darin die Wichtigkeit der Beruflichen Bildung und hob das Berufskolleg als tragende Säule des Schulsystems hervor. In den darauffolgenden Workshops, die vom Ministerium für Schule und Bildung NRW organisiert und durch Fachmitarbeiterinnen und -mitarbeiter des Hauses geleitet wurden, kam man ins Gespräch und konnte über Zukunft, Potenziale und Herausforderungen der Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen diskutieren.
Prof. Dr. Dieter Euler von der Universität St. Gallen ist Autor dieser in gemeinsamer Herausgeberschaft mit der RuhrFutur gGmbH und mit Förderung durch die RAG-Stiftung sowie die Stiftung Mercator entstandenen Studie. Im Interview erzählt er, was seine wichtigsten Erkenntnisse daraus sind und wo er die Zukunft der Beruflichen Bildung sieht.
Schule NRW: Was ist die größte Erkenntnis, die Sie aus der Studie ziehen?
Prof. Dr. Dieter Euler: Es sind zwei wesentliche Erkenntnisse aus der Studie, die ich hervorheben möchte.
Zum einen zeigt sie, dass das Berufskolleg mit seinen 16 Bildungsgängen ein Herzschrittmacher der Berufsbildung in NRW ist. Der Herzschrittmacher dient als Taktgeber, wenn das Herz zu langsam schlägt, es bringt den Organismus wieder in einen normalen Rhythmus. Und insbesondere die duale Berufsausbildung ist derzeit nicht in Höchstform – im Gegenteil! Das Berufskolleg nimmt wichtige Funktionen in der Berufsbildung wahr. Neben der qualifikatorischen ist dies beispielsweise eine kompensatorische: So finden jährlich mehr als 50.000 Jugendliche in NRW keine Ausbildungsstelle und drohen aus dem System zu fallen. Das Berufskolleg fängt und nimmt sie auf und bietet ihnen eine neue Chance.
Zudem ist das Berufskolleg der Ort, an dem in hohem Maße eine Nachholbildung stattfindet. Mehr als 60 Prozent der Hauptschulabschlüsse und mehr als 80 Prozent der Fachhochschulreifen werden dort erworben.
Eine zweite Erkenntnis zeigt jedoch, dass das Berufskolleg die bildungspolitischen und ökonomischen Herausforderungen nicht allein stemmen kann. Wenn die Wirtschaft nicht hinreichend Ausbildungsstellen in den für Jugendliche attraktiven Berufen bereitstellt und dabei auch verstärkt Jugendliche mit Startnachteilen berücksichtigt, dann bleibt auch die Wirkungskraft des Berufskollegs begrenzt. Insofern leistet das Berufskolleg wertvolle Dienste für Wirtschaft und Gesellschaft, es ist aber auch von deren Unterstützung und Mitwirkung abhängig.
Wie wichtig sind die Berufskollegs Ihrer Einschätzung nach vor allem im Hinblick auf den immer eklatanter werdenden Fachkräftemangel?
Die Fachkräftesicherung ist nicht nur in NRW eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahre. Dies zeigt der in der Studie ausgewiesene Indikator der Ersatzbedarfsrelation nachdrücklich: Nur rund 70 Prozent der demnächst aus dem Beschäftigungssystem ausscheidenden 55- bis 64-Jährigen werden durch die neu in das System eintretenden 15- bis 24-Jährigen ersetzt. Neben dieser quantitativen Größe erfordert die Bewältigung des Strukturwandels von einer traditionellen Industrieregion zu einer Dienstleistungs- und Wissensökonomie zukünftig Fachkräfte auf einem höheren Qualifikationsniveau.
Vor diesem Hintergrund ist es fatal, dass schon seit vielen Jahren nahezu unverändert der Anteil der Ungelernten ohne Ausbildungs- oder Studienabschluss in der Gruppe der 25- bis 34-Jährigen bei 15 Prozent verharrt.
Das Berufskolleg leistet in diesem Bereich wiederum einen beachtlichen Beitrag. Seit einigen Jahren sind die Curricula in den 16 Bildungsgängen kompetenzorientiert, dualisiert und berufsbreit profiliert. Das heißt, sie sind auf sich wandelnde Anforderungen ausgerichtet und bereiten die Lernenden auf ein Arbeitsleben vor, das sich in rasanten Innovationszyklen vollzieht. Die Curricula werden laufend angepasst, neue oder veränderte Berufsbilder schlagen sich in neuen Lehrplänen nieder. Im Bereich der beruflichen Weiterbildung leisten die Berufskollegs zudem vielerorts einen wertvollen Beitrag zur Begleitung und Gestaltung des Strukturwandels in der Region.
Wo sehen Sie in der Entwicklung der Berufskollegs den größten Handlungsbedarf?
Ein wesentlicher Handlungsbedarf besteht im Abbau der seit Jahren bestehenden Bugwelle des Übergangssektors. Wenn selbst nach vier Jahren nur etwa 60 Prozent der Jugendlichen im Übergangssektor die Einmündung in eine qualifizierte Berufsausbildung finden, dann ist dies weder für die betroffenen Jugendlichen noch bildungsökonomisch ein haltbarer Zustand. Hier kann auch das Berufskolleg durch die Weiterentwicklung der beiden Bildungsgänge im Übergangssektor – die Ausbildungsvorbereitung und die einjährige Berufsfachschule – einen Beitrag leisten. Wichtig wäre es jedoch insbesondere, diejenigen Jugendlichen, die mit oder ohne Fördermaßnahmen eine Berufsausbildung absolvieren können, nicht in eine vorbereitende Maßnahme, sondern unmittelbar in eine qualifizierende Berufsausbildung zu integrieren. Wenn nicht hinreichend betriebliche Ausbildungsstellen zur Verfügung stehen, dann wären subsidiär staatlich geförderte Ausbildungsstellen zu schaffen. Es sind jedoch noch weitere Handlungsbedarfe dringlich.
Haben Sie Beispiele dafür?
Neben der Einmündung von mehr Jugendlichen in eine qualifizierte Berufsausbildung ist auch darauf zu achten, dass insbesondere Auszubildende in Ausbildungsberufen mit hohem Abbruchrisiko durch begleitende Fördermaßnahmen zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden. Die Rekrutierung von Lehrkräften, aber auch die Bereitstellung von Ressourcen für didaktische Innovationsentwicklung begründen einen Handlungsbedarf.
In Ihrer Studie beleuchten Sie die Situation im Ruhrgebiet noch einmal gesondert. Was sind die besonderen Herausforderungen, die Sie in diesem Teil Nordrhein-Westfalens sehen?
Das Ruhrgebiet ist aufgrund der wirtschaftlichen Strukturentwicklung in vielen kritischen Indikatoren nochmals in einer verstärkten Bedarfslage. So ist der Ausbildungsstellenmarkt dort in der vergangenen Dekade noch stärker geschrumpft als NRW-weit, was dem Berufskolleg eine verstärkte Kompensationsrolle zugewiesen hat. Die Angebots-Nachfrage-Relation auf dem Ausbildungsmarkt liegt in den meisten Arbeitsamtsbezirken des Ruhrgebiets schlechter als im Landesdurchschnitt. Die Abbruchzahlen in den Bildungsgängen des Berufskollegs sind höher als im Landesdurchschnitt. Dies hat zum Teil auch etwas mit der spezifischen Sozialstruktur im Ruhrgebiet zu tun – so liegt der Anteil von Jugendlichen mit Startnachteilen dort höher als in NRW insgesamt, was für die Schulen erhöhte Herausforderungen begründet.
Andererseits zeigen einige Indikatoren für das Ruhrgebiet günstigere Werte als NRW-weit. Auffällig ist der im Vergleich zum Bund um mehr als 13 Prozent höhere Anteil von Neuzugängen in der dualen Berufsausbildung mit Hochschulzugangsberechtigung, der noch stärker ausfällt als auf Landesebene. Für die ökonomische und soziale Entwicklung des Ruhrgebiets ist die Funktion des Berufskollegs als regionales Kompetenzzentrum von besonderer Bedeutung. Über das Berufskolleg können regionale Aus- und Weiterbildungsbedarfe identifiziert und in passende Bildungsangebote umgesetzt werden.
Gab es etwas, was Sie an den Ergebnissen der Studie überrascht hat?
Angesichts des breiten, beeindruckenden Leistungsspektrums des Berufskollegs ist es doch überraschend, wie wenig hierüber in Politik und bildungspolitischer Fachöffentlichkeit bekannt und berichtet wird. Während andere Schulformen regelmäßig die Schlagzeilen der Medien füllen, wirkt das Berufskolleg eher unscheinbar im Hintergrund.
Dies ist schade, da das Berufskolleg viele Bildungsgänge anbietet, die bei genauer Kenntnis für viele Jugendlichen eine große Attraktivität besitzen und neben einem guten Übergang in Ausbildung und Beschäftigung auch eine profunde Allgemeinbildung bieten. Insofern ist zu hoffen, dass nicht zuletzt die Bildungspolitik in NRW seinen verborgenen Riesen angemessen ausstattet und sichtbarer in Szene setzt.
Das Interview führte Janine Westphal, Ministerium für Schule und Bildung NRW.
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