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„Hey, erklär mir dein Gedicht!“ – Ein Gespräch über Lyrik und Hatespeech mit dem Autor Sascha Kokot

Portrait des Lyrikers Sascha Kokot

„Hey, erklär mir dein Gedicht!“ – Ein Gespräch über Lyrik und Hatespeech mit dem Autor Sascha Kokot

[Schule NRW 06-24]

Im Mai 2023 schrieben die Schülerinnen und Schüler der Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe eine Zentrale Klausur im Fach Deutsch zum Thema Naturlyrik. Die Grundlage dieser Klausur bildete ein Gedicht des zeitgenössischen Schriftstellers Sascha Kokot. Der titellose Text „sobald die Stadt zur Ruhe gekommen ist“ wurde seinem zweiten Lyrikband „Ferner“ (2017) entnommen.

Die Zentralen Klausuren werden auf der Grundlage der Kernlehrpläne durch eine Kommission aus erfahrenen Lehrkräften von Gymnasien und Gesamtschulen erstellt und durchlaufen mehrere Qualitätssicherungsmaßnahen. Aus Gründen der Geheimhaltung und der Prüfungssicherheit können die betroffenen Autorinnen und Autoren im Vorfeld nicht über die Nutzung ihrer Texte informiert werden.

Im unmittelbaren Anschluss an die Klausur wurde Sascha Kokot von Seiten einiger Schülerinnen und Schüler medial ausfindig gemacht und mit heftigen Anfeindungen konfrontiert. Die Jugendlichen konnten die Wahl des Textes, mit seiner freien lyrischen Form ohne Metrum und Reimschema sowie ohne Satzzeichen, nicht nachvollziehen und gaben dieses Unverständnis unmittelbar an den Autor des Werks weiter.

Heute, mit einem Jahr Abstand, sprechen wir mit Sascha Kokot darüber, wie er die Situation damals erlebt hat. 

 

Schule NRW: Herr Kokot, im Jahr 2006 haben Sie ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig begonnen, aber Sie haben gewiss schon früher mit dem Schreiben angefangen. Wie sind Sie dazu gekommen zu dichten?

Sascha Kokot: In Sachsen-Anhalt finden einmal im Jahr die Landesliteraturtage statt, und in diesem Rahmen wurden, als ich 16 oder 17 Jahre alt war, in meiner Heimatstadt Osterburg zahlreiche Lesungen angeboten, auch in Schulen, auch in meiner Klasse. Ich war beeindruckt von den vorgetragenen Texten, aber auch davon, von den Autorinnen und Autoren in Gesprächen im Klassenzimmer erklärt zu bekommen, wie sie arbeiten, worüber sie schreiben, wie sie ihre Themen finden und wie sie ihr Geld verdienen. Danach dachte ich mir: „Das kann ich auch!“ – und habe mit dem Schreiben angefangen.

Heute bin ich derjenige, der Schulen besucht, um den Schülerinnen und Schülern meine Texte näherzubringen und zu erläutern, wie sie entstehen. Solche Lesungen und der Kontakt zu zeitgenössischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern werten meiner Meinung nach den Literaturunterricht ungemein auf. 

Mich persönlich spricht die Literatur der Gegenwart mehr an, aber auch die Beschäftigung mit klassischen Werken hat ihre Berechtigung. Ähnliches nehme ich bei Kindern und Jugendlichen wahr, die wollen und sollten nicht nur Werke von toten Autorinnen und Autoren lesen. Vielleicht wäre ein Verhältnis von 30 Prozent Klassikern und 70 Prozent moderner Literatur sinnvoll, da sich Letztere auch mit aktuell relevanten gesellschaftspolitischen Themen befasst.

 

Sprechen Sie mit den Jugendlichen auch über mögliche Deutungen Ihrer Gedichte?

Wenig, denn ich halte Leserinnen und Leser durchaus für fähig, meine Texte alleine zu verstehen. Ich kann sogar nachvollziehen, dass Jugendliche mit einzelnen Gedichten nichts anfangen können. Um sich mit Lyrik auseinanderzusetzen, braucht man Zeit und Lust, aber auch Neugier, Ausdauer und Interesse am Spielerischen. Ich versuche, mit meinen Texten einen Raum zu schaffen, in dem man sich aufhalten kann, wenn man sich dort wohlfühlt.

 

Haben Sie als Schüler gerne den Deutschunterricht besucht?

Ich mochte den Deutschunterricht dann, wenn ich das Gefühl hatte, dass die Lehrkraft sich individuell und empathisch um die Stärken und Schwächen der einzelnen Schülerinnen und Schüler kümmert und nicht nur in Frontalunterricht den Lernstoff durchbringen will. Ich hatte lange keine guten Noten in diesem Fach, weil es gedauert hat, bis ich durch harte Arbeit eine Lese-Rechtschreib-Schwäche abgebaut hatte.

Guter Deutschunterricht ist für mich ein Unterricht, der ein Werk in den Raum stellt und einen Austausch darüber ermöglicht, wie man einen Zugang zu diesem Werk findet, was einen an einem Werk berührt.

 

Wie kam es dazu, dass Sie sich entschieden haben, vom Schreiben leben zu wollen?

Das Schreiben ist für mich eine Dringlichkeit, eine Notwendigkeit. Ich sammle Ideen und möchte dann ein Gefäß, also Worte und eine Form, dafür finden. So entstehen meine Texte. Das Publizieren ist dann ein schöner Nebeneffekt.

Leben kann man vom Schreiben allerdings nur in sehr prekären Verhältnissen, das habe ich eine Zeit lang so erlebt. Irgendwann habe ich mich entschieden, nicht vom Schreiben leben zu wollen, und beschäftige mich seitdem nur an einigen Tagen in der Woche mit meinen Texten, an den anderen arbeite ich in meinem „Brot-Job“, um das Geld für meinen Lebensunterhalt zu verdienen und unabhängig von Fördermitteln zu sein. Das hat von mir den Leistungsdruck genommen.

 

Sie haben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Denken Sie, dass man das Dichten erlernen kann?

Man kann das Schreiben unterrichten, so wie man das Komponieren oder auch das Malen vermitteln kann. Im Zusammenhang mit Literaturunterricht lernt man etwa wichtige Texte der vergangenen Jahrhunderte kennen, ihre Themen, Formen und Gattungen. Dazu kommt die Vermittlung von Techniken des Schreibens. Von Geniekult halte ich nichts: Niemand wird als Autor geboren. Deshalb sollte Unterricht ein Ort sein, an dem Lernende Angebote bekommen und experimentieren dürfen.

 

Was macht für Sie ein gelungenes Gedicht aus?

Ein Gedicht, das mich berührt, gefangen nimmt und hält, das eigene Erfahrungen widerspiegelt, einen Denkprozess in Gang setzt oder Erinnerungen weckt, das ist für mich ein gelungenes Gedicht.

 

Braucht ein gelungenes Gedicht Reime, ein Metrum, eine feste Strophenform?

Alle diese formalen Aspekte besitzen ihre Berechtigung und einige Lyrikerinnen und Lyriker und auch Leserinnen und Leser schätzen das Korsett, das durch diese Vorgaben entsteht. Mich jedoch sprechen derartige formale Vorgaben nicht an, ich empfinde sie eher als einengend. Ein Metrum klappert in meinen Ohren und ein Reimschema sorgt oft dafür, dass ich den Reim schon kommen höre. Für mich persönlich ist die Auseinandersetzung mit dem Inhalt entscheidender als die mit der Form. Ich bin regelmäßig überrascht, was Leserinnen und Leser in meinen Gedichten entdecken und wie sie mir anhand des Textes nachweisen, dass ein Gedanke, den ich nie hatte, sich in meinem Text belegen lässt.

 

Eines Ihrer Gedichte bildete die Textgrundlage in der Zentralen Klausur am Ende der Einführungsphase im Fach Deutsch am 24. Mai 2023. Wie haben Sie diesen Tag in Erinnerung?

Zunächst muss ich sagen, dass ich keine Ahnung davon hatte, dass eines meiner Gedichte für eine NRW-weite Klausur ausgewählt worden war. Um etwa halb zehn an diesem Mittwoch gingen die ersten beleidigenden Nachrichten auf Instagram und per E-Mail bei mir ein. Vieles fand ich verstörend, was mir ab diesem Tag begegnete: Da ist zuallererst der Inhalt der Nachrichten, der von „Hey, erklär mir dein Gedicht!“-Posts über „Entschuldige dich für das Gedicht bei mir!“-Aufforderungen bis hin zur Androhung von Gewalt und Mord reichte. Es war, als ob plötzlich ein betrunkener Stammtisch vor der Haustür steht: Es gab keine Gesprächsbereitschaft, keine Aufforderung zur Kommunikation, nur unreflektierte Ausdrücke des Unwillens, des Hasses, alles ungezügelt, ohne Hemmungen, im Affekt. Ich hatte vorher noch nie Erfahrungen mit Hatespeech gemacht.

 

Wie ging es dann weiter?

Ich habe meine Profile in den sozialen Medien noch am Prüfungstag auf privat umgestellt, allerdings erreichten mich weiterhin die Hass-Nachrichten via E-Mail. Ich habe aus Selbstschutz nichts gelesen, was dazu im Internet oder in den sozialen Medien veröffentlicht wurde, obwohl ich ein psychisch stabiler Mensch bin. Labilere Autorinnen oder Autoren, die womöglich an sich selbst und ihrer Arbeit zweifeln, hätten dem sich anschließenden zweiwöchigen medialen Beschuss nicht standgehalten. Es ist kein Geheimnis, dass viele Opfer von Hatespeech sich als Folge der Attacken aus der Öffentlichkeit zurückziehen, unter psychischen oder auch körperlichen Symptomen leiden. Wir alle wissen: Aus Hassrede können Gewalttaten werden.

Ich war überrascht und schockiert, wie einige Schülerinnen und Schüler mit sozialen Medien umgehen, das betrifft sowohl die Hemmschwelle als auch die Inhalte der Nachrichten und Posts. Einiges von dem, was mir zugeschickt wurde, ist strafrechtlich relevant. Hätte ich die entsprechenden Mails oder Posts an die Polizei weitergegeben, wären einige Verfahren daraus entstanden. Jeder, der sich im Internet bewegt, sollte sich bewusst sein, dass das kein anonymer Raum ist und das eigene Handeln Konsequenzen nach sich zieht. Die Jugendlichen müssen im Elternhaus und in der Schule viel stärker aufgezeigt bekommen, wie man im Internet agiert, wie man einen medialen Diskurs respektvoll führen kann, was man nicht tut und welche Verhaltensregeln auch im Internet gelten.

 

Herr Kokot, mit fast einem Jahr Abstand: Haben Sie sich im Nachhinein auch einmal gefreut, dass eines Ihrer Gedichte für eine Zentrale Prüfung ausgewählt wurde?

Sie sagen richtig, dass der Text ausgewählt wurde. Auch dies haben viele Schülerinnen und Schüler und auch Eltern nicht verstanden: Nicht ich habe mein Gedicht als Prüfungstext eingereicht, es wurde von der Schulaufsicht in Nordrhein-Westfalen ausgewählt. Nicht ich wollte, dass man meinen Text interpretiert. Denn ich würde jedem Leser und jeder Leserin meiner Texte stets sagen: Wenn sie dir nicht gefallen, dann pack sie wieder weg. Und wenn du dich über eine Prüfung beschweren möchtest, dann schreib an diejenigen, die für die Prüfung verantwortlich sind, nicht an mich. Wenn man im Supermarkt verdorbene Milch kauft, beschwert man sich ja auch nicht bei der Kuh.

Heute, nach einem Jahr, nach dem Abklingen der Hatespeech-Nachrichten bleibt zwar ein bitterer Geschmack zurück, aber ich freue mich durchaus, dass einer meiner Texte für eine landesweite Oberstufenklausur ausgewählt wurde. Und bei jeder Party kann ich nun eine recht unterhaltsame Anekdote erzählen.

 

 

Das Interview führten Isabelle Defort und Thomas König, Ministerium für Schule und Bildung, sowie Thomas Roberg, Qualitäts- und Unterstützungsagentur - Landesinstitut für Schule.

 

Kurzinformation zum Autor

Sascha Kokot, geboren 1982 in Osterburg (Altmark), ist ein deutscher Lyriker. Nach einer Lehre als Informatiker in Hamburg und einem längeren Aufenthalt in Australien studierte er von 2006 bis 2010 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für seine Gedichte, die in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften erschienen sind, wurde er mehrfach mit Stipendien und Preisen ausgezeichnet. Neben seiner literarischen Arbeit setzt er sich in Sachsen-Anhalt für die Lese- und Literaturförderung ein, indem er zum Beispiel Lesungen und Schreibwerkstätten an Schulen veranstaltet. Er lebt als freier Autor und Fotograf in Leipzig.