Hinsehen und Handeln
Mobbing, ob im realen Leben oder virtuell, ist immer ein strukturelles Problem – und schon gar nicht ein reiner Konflikt. Hinsehen und Handeln ist gefragt, vor allem schon bevor Mobbing entsteht. Thomas Gödde und Sascha Borchers erläutern im Interview Hintergründe und Haltungen für gelungene Intervention.
[Schule NRW 05-21]
In meiner Klasse gibt es Mobbing. Was mache ich als Lehrkraft?
Thomas Gödde: Im „Erfahren“ liegt die erste, größte Hürde! Denn in der Regel werden Ihnen die direkt betroffenen Schülerinnen und Schüler nichts erzählen. Zu groß ist die Angst vor negativen Sanktionen bzw. Ablehnung durch Unglaube, Unverständnis oder gar Ablehnung. In der Regel läuft die Information über Dritte, also zum Beispiel Eltern oder Mitschülerinnen und -schülern. Manchmal auch über Hinweise von Kolleginnen und Kollegen, z.B. in Konferenzen. Und bis es so weit kommt, ist oft bereits viel Zeit verstrichen.
Nachvollziehbar. Aber was mache ich nun als Lehrkraft?
Dr. Sascha Borchers: Oftmals wird das Vorliegen von Mobbing negiert – aus verschiedensten Gründen. Der Notfallordner für Schulen in NRW hat den Untertitel „Hinschauen und Handeln!“ Das ist auch eine gute und wichtige Haltung für Mobbingsituationen! Bei Mobbing gilt es, zunächst den Blick zu schärfen, eine gute Analyse vorzunehmen, sich einen Überblick zu verschaffen, Betroffene zu schützen um klug und persönlich – vielleicht auch mit Unterstützung von zum Beispiel Kolleginnen und Kollegen - zu handeln.
Wen meinen Sie mit Kolleginnen und Kollegen? Die Schulleitung?
Borchers: Es gibt an den Schulen vielfach etablierte Beratungs- und Unterstützungssysteme. Im innerschulischen Team für Beratung, Gewaltprävention und Krisenintervention haben Sie alle relevanten Player Ihres Systems zusammen. Wenn eine dortige Beratung ergibt, dass Sie außerschulische Unterstützung benötigen oder sinnvoll ist, wären beispielsweise die regionalen schulpsychologischen Beratungsstellen ein guter Ansprechpartner.
Was passiert dann konkret?
Gödde: Mobbing ist immer ein soziales Phänomen. Das heißt, es braucht eine zuschauende Gruppe, um zu „mobben“. Diese Gruppe oder diese Mitschülerin bzw. diesen Mitschüler muss ich in die Intervention einbeziehen. In der Regel macht man das Mobbingsystem – natürlich nur mit Einverständnis des Opfers – öffentlich und verdeutlicht, dass dies an der Schule nicht geduldet wird. Schule muss die klare Haltung vertreten: Wir sind ein sicherer Ort und jede und jeder kann hier gefahrlos hinkommen. Damit hat die Schule die soziale Norm klar definiert, nämlich weg vom Täter.
Das klingt so, als müsse dann die Gruppe ein neues Miteinander, also Sozialverhalten lernen?
Gödde: Ja, das ist eine gute Beschreibung. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen: Nutzen Sie für Intervention und Prävention die Informationen über Strukturen, Verhaltensweisen, Regeln und so weiter, die in der Gruppe vorliegen! Schülerinnen und Schüler haben das größte Wissen, „wie der Hase in ihrer Gruppe läuft“. „Sozialverhalten lernen“ ist dabei ein wichtiges Ziel.
Borchers: Stichwort Cyber-Mobbing: Auch im Online-Kontext ist Wachsamkeit geboten! Auch dazu gibt es unterstützende Angebote, etwa durch die Landespräventionsstelle gegen Gewalt und Cybergewalt bei der Stadt Düsseldorf. Schule tut gut daran, gerade in Distanzphasen mehr in Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern sowie untereinander zu investieren.
Mehr als in Lernen?
Borchers: Lassen Sie mich es provokant sagen: Ja! Wir garantieren auch in besonderen Zeiten beste Bildung für alle Schülerinnen und Schüler. Psychohygiene ist eine wichtige Voraussetzung dafür.
Wie kann sich eine Schule denn in punkto Mobbing gut aufstellen?
Gödde: Zunächst einmal, indem sie umdenkt. Wir wissen, dass die Mobbingrealität systematisch unterschätzt wird. Das ist kein Versagen der Schule, sondern durch das Mobbingsystem selbst bedingt. Täter bauen sich heimliche Bühnen und die Betroffenen haben in der Regel berechtige Angst vor Aufdeckung. Studien zeigen: Selbst Vertrauenslehrkräfte unterschätzen die Mobbingrealität in ihren Schulen systematisch.
Borchers: Viele Schule glauben daher: Weil ich Mobbing nicht wahrnehme, ist es nicht da. Das ist aber ein Trugschluss. Wenn ich in einer Schule keine nachhaltige Mobbingprävention betreibe, kann ich fast sicher sein, dass ich ein Mobbingproblem habe. Wer keine Prävention betreibt, obwohl er weiß, dass diese der Goldstandard bei Mobbing ist, handelt grob fahrlässig. Das kann im schlechtesten Fall auch zu juristischen Problemen führen. Ein Stichwort lautet hier sicherlich auch „Unterlassene Hilfeleistung.“
Das ist harter Tobak! Wie kann Schule da wirksam sein?
Gödde: Auch der nächste Schritt ist „nur“ ein Umdenken. Viele halten Mobbing für einen Konflikt oder etwas, was auch durch Merkmale des Opfers mitbedingt ist. Auch das ist ein folgenschwerer Irrtum. Mobbing ist ein soziales Machtspiel. Der Täter befriedigt seine Machtgelüste über die Darstellung seiner Macht auf der sozialen Bühne in der Schule, im virtuellen Raum der sozialen Medien und sucht sich dafür ein Opfer aus, mit dem er es am leichtesten bewerkstelligen kann.
Aber warum wehren sich die Opfer nicht und warum schreiten die Mitschülerinnen und -schüler nicht ein?
Borchers: Die Täter handeln meist nicht allein, sie werden unterstützt oder suchen sich Unterstützer. Auf der anderen Seite gibt es unter den Zuschauenden gleichzeitig viele, die das Mobbing ablehnen. Gleichzeitig geraten sie aber unter Stress, weil die Verantwortlichkeiten, gegen das Mobbing vorzugehen, nicht so klar geregelt sind, wie es notwendig, im wahrsten Sinne des Wortes ist. Daraus entsteht eine Situation der verteilten Verantwortung und damit Nichthandeln. Dies nimmt das Opfer war und wähnt sich in einer ausweglosen Situation! Das nimmt aber auch der und die Täter war, die sich in Sicherheit fühlen.
Heißt das, wir bräuchten eine Leitfigur, eine „Führungsperson“ für eine verteidigende Gruppe?
Gödde: Ja, so ähnlich ist ein neuerer Ansatz der Mobbingforschung: Wie versetze ich eine soziale Gruppe in die Lage, beim ersten Anschein von Gewalt und Mobbing den sozialen Teufelskreis über sofortige Intervention zu unterbrechen? Forscherinnen und Forscher der LMU München nennen dies „starke Situationen“, in der sich die Richtung „Mobbing: ja oder nein?“ entscheidet. Dazu braucht es aber keine „Anführerinnen oder Anführer“, sondern viele Schülerinnen und Schüler, die so viele soziale Kompetenzen haben, dass immer zumindest eine oder einer sich traut, ein Stoppzeichen zu setzen und dann darauf vertrauen kann, dass die schweigende, aber ebenfalls sozial kompetente Mehrheit sich anschließt. Das wird auch positiv ausstrahlen für künftige Versuche von Mobbern, das soziale System zu „testen“. Dazu braucht es neben Zivilcourage und Empathie auch das Wissen um die Dynamiken bei Mobbing.
Borchers: Diese „starken Situationen“ müssen keine fiesen Gewaltvorfälle sein. Besonders wirksam ist es am Anfang, wenn das Mobbingsystem dabei ist, sich zu etablieren. Dann genügt oft eine Minimalintervention in Richtung Täter, zum Beispiel „Spinnst du? Der Spruch von dir geht gar nicht!“ Es zeigt, dass die Handlung eben nicht ungesehen und unwidersprochen bleibt.
Das heißt, die Lehrkräfte spielen hier gar keine Rolle bei der Intervention?
Gödde: Das wäre ein wenig zu idealistisch gedacht. Es wird immer Fälle geben, wo Lehrkräfte intervenieren müssen. Die Aufgabe von Lehrkräften muss es vielmehr sein, die Gruppe in die Lage zu versetzen, starke Situationen zu erkennen und sie sozial kompetent zu nutzen. Das hat zudem positive Nebeneffekte auf ähnliche Gewaltphänomene wie rassistische oder antisemitische Gewalt oder andere extremistische Verhaltensweisen. Das nennen wir „übergreifende Gewaltprävention“. Soziale Kompetenzen wie Empathie, Wachsamkeit, Zivilcourage sind darüber hinaus die Grundlagenkompetenzen dieses Jahrhunderts.
Zurück zur Mobbingprävention. Was sind die konkreten Eckpunkte?
Borchers: Lehrkräfte sollten die beschriebene Dynamik des Mobbingsystems kennen und die sich daraus ergebende Pflicht zur Prävention und Intervention. Diese Dynamik muss auch unbedingt Schülerinnen und Schülern vermittelt werden.
Im Rahmen der Prävention sind die Bilanzierung kontrollschwacher (auch virtueller) Räume, eine direkte zeitnahe Intervention bei Mobbinghandlungen und die regelmäßige Erhebung der Mobbingrealität besonders wichtig.
Zusätzlich zu diesen spezifischen Maßnahmen ist die gezielte Förderung von sozialen Kompetenzen wie Empathie, Perspektivenübernahme und Zivilcourage von zentraler Bedeutung.
Das Interview führte Martin Oppermann, Ministerium für Schule und Bildung NRW.
Thomas Gödde arbeitete ab 1984 als Psychotherapeut in einer verhaltensmedizinischen Klinik, wechselte 1991 in die Schulpsychologie. Ab 2008 war er Fachbeauftragter für Schulpsychologie im Bezirk Arnsberg, bis er 2017 die fachliche Leitung im Bereich Schulpsychologie der Landesstelle Schulpsychologie und Schulpsychologisches Krisenmanagement (LaSP) übernahm. In allen Stationen seiner schulpsychologischen Laufbahn war und ist ihm die Prävention von Mobbing ein besonderes Anliegen.
Dr. Sascha Borchers ist Schulpsychologe und derzeit in das Ministerium für Schule und Bildung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen abgeordnet. Er arbeitet als Referent für den Bereich „Schulpsychologie, Schulischer Krisenbeauftragter, Krisenmanagement, Prävention, Schule im Sozialraum, Gesundheit“. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Schulpsychologie und Prävention.
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