Kindeswohl und Schule
Ein Interview mit dem Diplom-Psychologen Thomas Gödde gibt Aufschluss darüber, wie Schulen bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung agieren können.
Ein Interview mit dem Diplom-Psychologen Thomas Gödde, Landesstelle Schulpsychologie und Schulpsychologisches Krisenmanagement, gibt Aufschluss darüber, wie Schulen bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung agieren können:
Warum ist Schule ein besonders wichtiger Ort, wenn es um den Schutz des Wohles unserer Kinder geht, die konkreten Gefährdungen liegen doch oft außerhalb von Schule?
Der Lern- und Lebensraum Schule bietet Kindern und Jugendlichen – auch und besonders denen mit Gewalt- oder Vernachlässigungserfahrungen – einen Schutzraum, einen Raum für eigene Entwicklung sowohl im Kontakt mit den Lehrkräften als auch mit den Gleichaltrigen. Sie machen hier auch die Erfahrung, dass es andere Lebenswirklichkeiten gibt, als die, unter denen sie gerade besonders leiden. Schule ist hier schützendes Element und kann die Resilienz Betroffener stärken, vor allem dann, wenn eine Kindeswohlgefährdung nicht umgehend erkannt oder beseitigt werden kann.
Ein weiterer sehr wichtiger Grund ist, dass gerade der Lern- und Lebensraum Schule die Chance bietet, eine Kindeswohlgefährdung zu erkennen und erste Schritte zu deren Bewältigung anzubahnen. Die Schwelle, sich gegenüber einer vertrauten Person in der Schule zu öffnen ist ungleich niedriger, als sich an eine unbekannte Institution mit der Bitte um Hilfe zu wenden. Gleichzeitig nehmen Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler tagtäglich wahr, sind in engem Kontakt und können somit Veränderungen in ihrem Verhalten, die auf Sorgen und Nöte hindeuten, frühzeitig erkennen und Gespräche anbieten und ggf. Hilfsmöglichkeiten anbahnen.
Sind Lehrkräfte damit nicht überfordert?
Wenn man von ihnen erwartet, sie sollen die Rolle und die Wächterfunktion eines Jugendamts oder die Rolle von Therapeuten einnehmen, dann wäre das ganz sicher eine Überforderung. Andererseits sind sie in vielen Fällen die einzigen verbliebenen staatlich angestellten Personen, zu denen betroffene Kinder und Jugendliche, aber auch Elternteile, ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. Diese Beziehungschance gilt es zu nutzen, um eine Rolle einnehmen zu können, die nicht zur Überforderung der Lehrkräfte führt, aber Chancen für die Vermittlung von Hilfen eröffnet.
Konkrete Fälle von Kindeswohlgefährdung sind immer eine große auch emotionale Herausforderung für alle Beteiligten. Deswegen ist es wichtig, dass Lehrkräfte die Möglichkeiten kennen, sich selbst fachliche Unterstützung zu suchen und ihre Handlungsweisen im konkreten Fall, sowohl was die Möglichkeiten, aber auch was die Grenzen angeht, zu überprüfen.
Welche Unterstützung gibt es für Lehrkräfte?
Da ist zum einen die Möglichkeit des direkten - bzgl. des konkreten Einzelfalls auch anonymen - Beratungskontakts zur örtlichen Jugendhilfe, die „Insoweit erfahrene Fachkräfte“ beschäftigen, die sich mit einer anfragenden Lehrkraft fachlich beraten können, welche Handlungsmöglichkeiten im konkreten Einzelfall sinnvoll sein können. Die schulpsychologischen Beratungseinrichtungen, die es in jedem Kreis und jeder kreisfreien Stadt gibt, sind weitere wichtige Unterstützer der Lehrkräfte, wenn es um Fragen der Gesprächsführung, der eigenen Rolle und der Kontakte zum weiteren außerschulischen Hilfenetzwerk geht.
Es hat in den vergangenen Jahren vielfältige Anstrengungen seitens des Landes gegeben, Lehrkräfte im Umgang mit vermuteter Kindeswohlgefährdung zu qualifizieren. Dazu gehören z. B. Informationen zu Indikatoren von Kindeswohlgefährdung und deren Dokumentation sowie Informationen über die Art und Weise, wie schwierige Gespräche mit Betroffenen oder Eltern von Betroffenen mit dem Ziel einer Hilfeanbahnung geführt werden können. Dazu gehört auch, die besonderen Chancen der Rolle der Lehrkräfte beim Schutz unserer Kinder selbstbewusst und fachlich kompetent anzunehmen, aber auch, die Grenzen der eigenen Möglichkeiten anzuerkennen. Diese Qualifizierungen wurden durch die Schulpsychologie in Kooperation mit Vertretern der Jugendhilfe landesweit im Auftrag des Ministeriums für Schule und Bildung durchgeführt.
Reichen solche Fortbildungsangebote aus?
Um nachhaltig wirken zu können, benötigt es Halt und feste Strukturen. Dies kann z. B. eine klare Handlungsanweisung leisten, die Lehrkräften auch unter hohem emotionalem Druck Sicherheit für ihr Handeln gibt. Im „Notfallordner für die Schulen in Nordrhein-Westfalen – Hinsehen und Handeln“ sind sehr konkret die Handlungsoptionen bei Kindeswohlgefährdung beschrieben. Dieser Ordner steht allen Schulen zur Verfügung.
Besonders wichtig sind Teamarbeit, Vernetzung und lokal angepasste Strategien. Schulische Teams für Beratung, Krisenintervention und Gewaltprävention sind dafür besonders geeignet. Sie können ein Konzept entwickeln, wie schulintern mit Situationen umzugehen ist, wenn sich z.B. Kinder und Jugendliche verändern, sich zurückziehen, Merkmale von äußerer Gewalt oder Vernachlässigung zeigen oder vielleicht auch verhaltensauffällig werden. Dahinter stecken manchmal Alltagssorgen, manchmal aber auch gravierendere Probleme. Entscheidend ist, darüber in Kommunikation zu kommen, um Chancen der Hilfe zu eröffnen und das lokale Hilfenetzwerk persönlich zu kennen, welches im Bedarfsfall unterstützen kann.
© Thomas GöddeDipl.-Psych. Thomas Gödde
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