„Sprache ist allgegenwärtig“
Sprechen, Schreiben, Schrift, Gebärdensprache – Sprache ist aus der Schule nicht wegzudenken. Warum Sprachliche Bildung darüber hinaus so wichtig ist, erläutern Prof. Becker-Mrotzek und Prof. Roth im Interview mit Schule NRW.
[Schule NRW 07/08-22]
Professor Becker-Mrotzek und Professor Roth, Sie beide beschäftigen sich wissenschaftlich schon lange mit sprachlicher Bildung. Warum ist sprachliche Bildung in der Schule so wichtig, auch wenn eine Lehrkraft keine Sprache, sondern naturwissenschaftliche oder künstlerische Fächer unterrichtet?
Eine ganz einfache Antwort lautet: sprachliche Bildung in der Schule ist so wichtig, weil es keinen Unterricht gibt, in dem nicht auch sprachlich kommuniziert wird. Sprache ist allgegenwärtig – und zwar in unterschiedlichen Formen: Das kann das mündliche Sprechen sein und ebenso das Schreiben und die Schrift als geschriebene Sprache sowie die Gebärdensprachen. Wenn man den Ausdruck Sprache etwas weiter fasst, gehören dazu auch mathematische Formeln, die Quellcodes von Computerprogrammen, ebenso Zeichencodes in Mannschaftssportarten und Signalsprachen wie für den Verkehrsunterricht. In einer Reihe von Wissenschaften wie zum Beispiel der Philosophie spricht man seit Jahrzehnten von einer Wendung zur Sprache, dem „linguistic turn“ – das meint eine Zuwendung zur Sprache und zum Sprechen, wenn es darum geht, das zu erfassen, was wir den Menschen nennen, seine Existenzweisen und Lebensformen, sein Denken, Verstehen und Handeln.
In der Konzeption einer modernen Bildung, zum Beispiel bei Wilhelm von Humboldt, spielte die Sprache immer schon eine herausragende Rolle. Von daher war es eine Engführung, Sprache vor allem im Sprachunterricht zu verorten und davon auszugehen, dass es die Zuständigkeit der Sprachlehrkräfte ist, insbesondere derjenigen des Faches Deutsch, für die sprachliche Bildung zu sorgen. Der Grundsatz, dass jeder Unterricht auch Sprachunterricht ist, ist daher nicht etwas Neues, sondern liegt im Kern dessen begründet, was wir seit über 200 Jahren als Bildung bezeichnen.
Dass sich im Laufe von Jahren diese verhängnisvolle Aufgabenteilung herausgebildet hat, resultiert u.a. aus dem Missverständnis, dass Sprache in der Schule lediglich als Gegenstand behandelt wird. Und als Gegenstand ist Sprache tatsächlich vorrangig eine Aufgabe der sogenannten Sprachfächer. Betrachtet man Sprache jedoch auch als Medium von Verständigung und Kommunikation sowie Lernen und Aneignung, kommt man gar nicht daran vorbei, Sprache und Sprechen in allen Unterrichtsfächern als eine Bildungsaufgabe zu betrachten: für den naturwissenschaftlichen Unterricht zum Beispiel ist es ein wichtiges Ziel, Naturphänomene zu verstehen und auch erklären zu können. Es ist also eine Aufgabe, Schülerinnen und Schüler da hin zu führen, empirisch beobachtbare Phänomene exakt beschreiben und theoretisch erklären zu können. Gerade ein problemorientierter Unterricht wird zum Ziel haben, diese Phänomene nicht nur abstrakt zu erfasse, sondern an konkrete Erfahrungen aus dem Leben der Schülerinnen und Schüler anzubinden – denken wir allein die aktuelle Diskussion um Klimawandel und Umweltverschmutzung.
In künstlerischen Fächern stehen sicherlich künstlerische Aktivitäten im Vordergrund. Aber wie werden die Schülerinnen Schule denn dorthin geführt? Lehrkräfte müssen in den Unterricht einführen und darstellen, worum es geht, was zu tun ist und wo das hinführen soll. Bei aller Begeisterung für den sog. stummen Impuls, kommt man an dieser Stelle nicht ohne Sprache aus. Und dann erschöpft sich eine ästhetische Bildung ja nicht allein darin, bestimmte künstlerische Tätigkeiten ausführen zu können, sondern es geht auch darum, darüber ins Gespräch zu kommen, die Schülerinnen und Schüler in eine Interaktion zu bringen und sich zum Beispiel darüber austauschen zu lassen, welche Erfahrungen mit bestimmten künstlerischen Praxen gemacht werden, welche Bedeutungen darüber zum Ausdruck gebracht werden usw. usw. Hier spricht man auch von Anschlusskommunikation.
Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit im Zuge sprachlicher Bildung, gerade weil die die Unterrichtssprache Deutsch ist?
Die Mehrsprachigkeit ist eine gesellschaftliche Tatsache. Dabei können wir unterschiedliche Ebenen unterscheiden: zum einen die Mehrsprachigkeit, die aufgrund von Zuwanderung in Deutschland heimisch geworden ist. Es ist inzwischen Normalität, dass nicht nur in großen Städten in vielen Schulen der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die zu Hause auch andere Sprachen verwenden, die mit der Herkunft der Familie verbunden sind, inzwischen zum Teil weit über 50 Prozent liegt. Weiterhin ist es seit der oben genannten Entwicklung einer modernen Schulbildung eine Bedingung des schulischen Lernens, dass man mindestens ein oder zwei Fremdsprachen lernt, um überhaupt einen Abschluss zu erlangen. Als drittes – und nicht als letztes – kann man die europäische Zielsetzung heranziehen, nach der es ein Bildungsziel ist, dass jede Schülerin und jeder Schüler möglichst in drei Sprachen Kompetenzen entwickelt, um sich in diesen Sprachen kommunikativ bewegen zu können.
Dabei muss es auch gar nicht so sein, dass die Unterrichtssprache immer die Landessprache ist. Im modernen Fremdsprachenunterricht wie auch in bilingualen Klassen ist es normal, auch andere Sprachen als Unterrichtssprache zu verwenden. Wenn man auf andere Staaten schaut, gibt es eine Reihe, in denen eben nicht nur eine Sprache als Unterrichtssprache verwendet wird.
Davon abgesehen spielt die Mehrsprachigkeit auch in dem Unterricht eine bedeutende Rolle, in dem die Unterrichtssprache Deutsch nicht nur dominiert, sondern die einzige Sprache ist. Das hängt damit zusammen, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler eben andere sprachliche Ressourcen mitbringen, die es zu berücksichtigen gilt – ebenso wie spezifische Lernbedarfe, zum Beispiel wenn sie erst seit kurzem das Deutsche als Zweitsprache erwerben. Sprich, es geht um die Berücksichtigung der sprachlichen Sozialisation, der vorhandenen Kompetenzen und auch der sprachlichen Lernbedarfe in jedem Unterricht, um den Schülerinnen und Schülern einen gleichen und fairen Zugang zu dem zu bieten, was wir Bildungserfolg nennen.
Warum ist der Einbezug von Mehrsprachigkeit im Unterricht gerade auch dann relevant, wenn beispielsweise nur zwei bis drei Schülerinnen und Schüler die eine andere Familiensprache als Deutsch sprechen eine Klasse besuchen?
Ganz generell geht es gar nicht um die Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit einer anderen Familiensprache. Die Einbeziehung dieser Familiensprachen ist nicht nur eine Frage des Lernens, sondern auch eine Frage der Anerkennung und Wertschätzung sprachlicher Ressourcen, die mehrsprachige Schülerinnen und Schüler mitbringen. Allerdings ist es in der Unterrichtspraxis ein großer Vorteil, wenn mehrere Schülerinnen und Schüler über dieselbe Familiensprache verfügen, weil auf diese Weise relativ einfach sprachspezifische Kleingruppen gebildet werden können, die die im Unterricht in deutscher Sprache eingeführten Lerngegenstände dann auch in der jeweiligen Familiensprache durcharbeiten können. Dabei muss man allerdings beachten, dass das nicht voraussetzungslos erfolgen kann: wenn Schülerinnen und Schüler lange Jahre allein in der deutschen Sprache gelernt haben, kann man nicht erwarten, dass sie in der Lage sind, komplexe Gegenstände eben mal in der ihnen verfügbaren Familiensprache bearbeiten zu können. Das hängt damit zusammen, dass in den einzelnen Unterrichtsfächern eigene Fachsprachen auf- und ausgebaut werden. Und da in wahrscheinlich den allerwenigsten Familien die Fachsprachen – und damit die Fachbegriffe – der meisten Unterrichtsfächer im Alltag verfügbar sind, wäre es relativ absurd, zum Beispiel im Mathematikunterricht in der Oberstufe plötzlich eine Kurvendiskussion in der Herkunftssprache führen zu lassen.
Wie kann der Einbezug von Mehrsprachigkeit im Unterricht/in der Schule funktionieren?
Sowohl für die Primarstufe als auch die Sekundarstufe kann man hier auf die bilingualen two-way-Modelle hinweisen, in denen ein sprachlich deutsche und zweisprachige Schülerinnen und Schüler gemeinsam in zwei Sprachen unterrichtet werden. Neben solchen Modellen, die eine gesonderte schulische Organisation benötigen, bereitet sich in den letzten Jahren auch das Translanguaging langsam aus. Dieses Konzept, das in den USA zunächst mit den Sprachen Spanisch und Englisch entwickelt wurde, bietet eine systematische Organisation von Lernprozessen in mehreren Sprachen. So wird zum Beispiel der Unterrichtsgegenstand – nehmen wir einmal das Thema Leben in der Familie – in der Sprache Deutsch eingeführt, daraufhin sammeln die Schülerinnen und Schüler in sprachspezifischen Kleingruppen, was sie alles darüber wissen, und notieren das in einer Mind-Map. Daraufhin wechselt man wieder in die deutsche Sprache und überträgt die Mindmap ins Deutsche; die Gruppen präsentieren sich ihre Ergebnisse im Plenum ebenfalls in deutscher Sprache. Daraufhin sammelt man, worüber man vielleicht noch nicht so viel weiß oder was man noch genauer wissen möchte. Die Lehrkraft gibt den Impuls, dass man doch mal Gespräche mit den Eltern oder den Großeltern dazu führen könne, und die Schülerinnen und Schüler gehen wieder in die sprachspezifischen Kleingruppen und überlegen sich Fragen für Interviews mit Familienmitgliedern. Usw. usw. Man kann also relativ schnell aus vielen Unterrichtsgegenständen kleine Mehrsprachigkeitsprojekte entwickeln.
Wichtig wäre auch hier, die Langfristigkeit eines solchen Lernens zu berücksichtigen. Wenn Schülerinnen und Schüler erst einmal gelernt haben, in dieser Weise mit mehreren Sprachen in einem Klassenverband umzugehen und die verschiedenen sprachlichen Kompetenzen als Ressourcen zu nutzen, funktioniert das nach einiger Zeit wie selbstverständlich. Weiterhin hat das Translanguaging den Vorteil, dass nicht nur zwei Sprachen einbezogen werden können, sondern eigentlich alle unter den Schülerinnen und Schülern verfügbaren, wenn mindestens zwei Sprecherinnen vorhanden sind.
Inwieweit können Programme wie das Landesprogramm „Grundschulbildung stärken durch HSU – Mehrsprachigkeit unterstützt den Bildungserfolg der Kinder“ und auch die BiSS Akademie NRW dazu beitragen, sprachliche Bildung an Schulen weiter voranzutreiben?
Also die in Nordrhein-Westfalen seit einigen Jahren verfolgte Ausrichtung, den Herkunftssprachlichen Unterricht zu stärken, kann einen großen Beitrag zur Verbesserung des Bildungserfolgs leisten. Von besonderer Bedeutung ist es dabei, den Herkunftssprachlichen Unterricht nicht als relativ beliebigen Appendix zum Regelunterricht in der deutschen Sprache anzubieten, sondern strukturiert und systematisch in das schulische Bildungsangebot zu integrieren. Wenn bei den Schülerinnen und Schülern wie auch ihren Eltern ‚ankommt‘, dass die Schulen es ernst meinen mit der Anerkennung der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit, dann kann dieser Unterricht als eine Art Transmissionsriemen dienen, die Familiensprachen tatsächlich als Ressourcen im Lernprozess zu nutzen.
Was braucht es dazu – ganz praktisch?
Die Wege dahin sind sicherlich unterschiedlich und bedürfen nicht nur einer Unterstützung durch die zuständigen Stellen wie das Schulministerium und die Fachaufsicht in den Bezirksregierungen, sondern vor allem auch einer Verständigung in den einzelnen Schulen. Das betrifft die Einbeziehung der Lehrkräfte für den Herkunftssprachlichen Unterricht in die Kollegien genauso wie eine systematische Planung der oben genannten Parallelisierung sprachlicher Bildungsangebote mit den sachfachlichen Lerngegenständen. Dazu brauchen die Schulen Zeit für die Planung und sicherlich auch für ein Experimentieren mit den verschiedenen methodischen Angeboten zur Organisation eines solcherart auf Mehrsprachigkeit hin geöffneten Unterrichts. Sicherlich ist auch eine Begleitung solcher Entwicklungsprozesse in den Schulen ausgesprochen hilfreich – und das zum Beispiel könnte ein wichtiger Beitrag der BiSS- Akademie sein: Wissen über organisatorische und methodische Möglichkeiten der Einbeziehung von Mehrsprachigkeit in die Schule und in den Unterricht bereitzustellen, Fortbildung dazu anzubieten und auch ein Forum für den Austausch interessierte Schulen und Lehrkräfte zur Verfügung zu stellen.
Inwieweit profitieren auch Schulen, die nicht an diesen Programmen teilnehmen, davon?
Klar, zunächst profitieren die teilnehmenden Schulen. Aber wenn es erfolgreich läuft, spricht sich das natürlich herum. Viele Schulen und Lehrkräfte arbeiten doch nicht mehr nach dem black-box-Prinzip der geschlossenen Klassenzimmertür. Austausch und Kooperation werden von vielen als hilfreich und fruchtbar erlebt. Von daher sind wir da ganz optimistisch, dass solche Erprobungen in Programmen sich herumsprechen. Das kann man aber selbstverständlich auch systematisch fördern, indem auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen sowie von Forschungsergebnissen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren fortgebildet werden, die ihrerseits interessierten Schulen und Lehrkräften entsprechende Unterstützung bieten können. Wichtig für einen solchen Transfer wäre es, dass vermittelt wird, dass mit der Einbeziehung der Mehrsprachigkeit nicht wieder eine zusätzliche Aufgabe auf Schulen und Lehrkräfte zukommt, sondern dass darüber tatsächlich die Bildungschancen der mehrsprachigen Kinder verbessert werden, dass das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern und der Lehrkräfte besser funktioniert und – im Idealfall – auch motivierter und für alle Beteiligten freudvoll verläuft, also auch mehr Spaß und Engagement bringt.
Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek und Prof. Dr. Hans-Joachim Roth sind in der Geschäftsführung des Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität zu Köln tätig.
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