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Neunarmiger Chanukka-Kerzenleuchter mit Davidsternsymbol und brennenden Kerzen.

Allgemeine präventive Ansätze

Schule ist ein Spiegelbild einer pluralen Gesellschaft. In Schulen gibt es eine Vielzahl an Familiengeschichten, Herkünften, Lebensentwürfen, Glaubensrichtungen und Potentialen. Schulen haben den wichtigen Auftrag, an einer lebenswerten und demokratischen Gesellschaft mitzuwirken. Dafür braucht es eine wertschätzende Schulkultur, gute Lernangebote und Raum für Begegnungen, damit neue Perspektiven möglich werden. Daher sollen Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler dazu ermutigen, Diskriminierung und Ausgrenzung entgegenzutreten und ein vielfältiges und wertschätzendes Miteinander zu gestalten und jeden Tag zu leben.

Auch jüdisches Leben in Nordrhein-Westfalen war und ist von großer kultureller und gesellschaftlicher Vielfalt geprägt und trägt seit Jahrhunderten zum kulturellen Reichtum Deutschlands und Nordrhein-Westfalens bei. Häufig fehlen allerdings im schulischen Alltag Bezüge zu jüdischem Leben der Gegenwart. Denn zurzeit dominiert in der Wahrnehmung vieler Menschen eine Geschichte der Verfolgung, in der Jüdinnen und Juden einseitig als Opfer von Gewalt dargestellt werden. Dabei werden Jüdinnen und Juden thematisch nahezu ausschließlich mit dem historischen Antisemitismus der Nationalsozialisten und der Schoah verbunden. Dabei ist gerade eine umfassende Sicht auf jüdisches Leben sowohl im Unterricht als auch in den außerunterrichtlichen Angeboten sowie im Schulalltag ein wichtiger Schlüssel zu mehr Wertschätzung und Akzeptanz.

Fragen & Antworten

Projekte wie „Meet a Jew“ des Zentralrats der Juden in Deutschland folgen der sogenannten Kontakthypothese, wonach persönliche Begegnungen mit Mitgliedern fremder Gruppen die Anfälligkeit für Stereotype und Vorurteile reduzieren können. „Meet a Jew“ etwa vermittelt ehrenamtlich aktive jüdische Jugendliche und Erwachsene für einen niedrigschwelligen Austausch mit schulischen Lerngruppen (https://www.meetajew.de). Auch der Besuch eines jüdischen Gemeindezentrums oder die Begegnung mit Gleichaltrigen in Israel per Zoom oder im Rahmen eines Schüleraustausches kann antisemitischen Ressentiments entgegenwirken. 

Vertiefende Informationen

Trotz vieler positiver Rückmeldungen aus Schulen ist der erwünschte Einstellungswandel infolge solcher Angebote keineswegs garantiert. Gegen begegnungspädagogische Angebote wird vor allem eingewandt, dass sich Einstellungen durch persönlichen Kontakt auch zum Schlechten verändern können, wenn die Begegnung misslingt. In jedem Fall empfiehlt sich, was zu den Gelingensbedingungen jedes außerschulischen Lernangebotes zählt: eine gründliche Vor- und Nachbereitung inklusive einer realistischen Klärung vorhandener Selbst- und Fremdbilder sowie von Erwartungen und Interessen. Keinesfalls eignen sich begegnungspädagogische Angebote als Interventionsmaßnahme nach antisemitischen Vorfällen. Begegnungen, bei denen Jüdinnen und Juden einer antisemitischen Atmosphäre ausgesetzt bzw. als vermeintliches Korrektiv für antisemitische Ressentiments instrumentalisiert werden, sind grundsätzlich auszuschließen. Der Schutz der jüdischen Gäste vor antisemitischen Anfeindungen hat Vorrang vor allen begegnungspädagogischen Intentionen.

Weitere Praxisbeispiele

Jüdisches Leben kann in vielfältiger Art und Weise im Schulalltag berücksichtigt werden. Im schulischen Alltag können beispielsweise religiöse Feiertage Anlass für Projekt- oder Thementage sein, die sich dem Thema widmen. Im Rahmen solcher Projektanlässe kann im Zusammenhang mit jüdischem Leben verschiedenen Aspekten nachgegangen werden, z.B. „Wie leben jüdische Menschen in Deutschland?“ „Was ist koscheres Essen?“ „Welche jüdische Musik gibt es?“. Wichtig ist hierbei immer zu beachten, dass Kinder und Jugendliche jüdischen Glaubens nicht zu Expertinnen und Experten gemacht werden (vgl. auch Othering).

 

Jüdische Alltagspräsenz und Zugehörigkeit anzuerkennen, darf dabei nicht zur Fest- und Fortschreibung von Differenzkonstruktionen führen. Vielfalt wertzuschätzen und zugleich Othering zu vermeiden, stellt eine Herausforderung dar, der Schulen sich im pädagogischen Alltag stellen müssen. Für diese Formen des Otherings sollten alle am Schulleben Beteiligten sensibilisiert werden.

Vertiefende Informationen

„Othering“ kann im Unterricht und im Schulleben auch dann Vorschub geleistet werden, wenn selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass keine Jüdinnen und Juden im Raum sind. Dies ist auch der Fall, wenn eine Differenz zur Mehrheitsgesellschaft konstruiert wird, wie es etwa der Fall ist, wenn Schulbuchkapitel von “Juden” und “Deutschen” sprechen. 

Auch wenn „Othering“ auf den ersten Blick eher harmlos erscheint, können durch ein fortgeführtes Betonen der Fremdheit jüdischen Lebens unterschwellig antisemitische Aggressionen verstärkt werden. (Chernivsky et. al. 2020, 60, vgl. auch Chernivsky 2018, Messerschmidt 2018, Bernstein 2020).

Das antisemitische Othering bezeichnet Handlungen, Worte oder Bilder, deren Inhalt Jüdinnen und Juden als fremd, exotisch oder als nicht dazugehörend markieren. Antisemitisches Othering liegt auch vor, wenn deutsche Jüdinnen und Juden zu Repräsentanten Israels umgedeutet werden und für israelische Politik verantwortlich gemacht werden. Jüdisch zu sein reicht als Anlass der Aus- und Abgrenzung. 

Praxisbeispiel

Beispiele für Othering:

Eine Lehrkraft bittet eine jüdische Schülerin, ein Referat zum Judentum zu halten: „Du bist doch Expertin.“

Oder aber zu Israel: „Du hast da doch eine besondere Beziehung.“

Problem:

Die Lehrkraft nimmt das jüdische Kind primär entlang zugeschriebener Rollen wahr. Das Kind wird primär als Angehöriger einer – als anders, fremd oder exotisch – wahrgenommenen Gruppe angesehen und dargestellt, die es repräsentieren soll. Dadurch wird es den anderen Kindern gegenübergestellt und als „besonders“ markiert (= Differenzkonstruktion).

Das Kind wird mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, die seinem kindlichen Entwicklungsstatus nicht gerecht wird und es unter Druck setzt. Die Individualität des Kindes wird nicht wahrgenommen, sie wird missachtet. Das Selbstbestimmungsrecht des Kindes bezüglich der Offenlegung seiner Identität wird übergangen. Das Schutzbedürfnis des Kindes wird möglicherweise verletzt, weil das Für-sich-Behalten der eigenen jüdischen Identität als Schutz verloren geht. Damit geht oft die Sorge einher, nun möglichen antisemitischen Angriffen ausgesetzt zu sein. 

Was sollte ich als pädagogische Fachkraft tun?

Als pädagogische Fachkraft sollte man eine jüdische Identität nie von sich aus offenlegen und ansprechen. Dies ist nur dann in Ordnung, wenn die jüdische Schülerin bzw. der jüdische Schüler oder auch die jüdische pädagogische Fachkraft es von sich aus zweifelsfrei signalisiert. Ansonsten muss immer vom potenziellen Wunsch nach Anonymität ausgegangen werden.

Unterrichtsmaterialien zum jüdischen Leben

Zum Thema jüdisches Leben finden sich unter folgenden Links hilfreiche Informationen:

Die schulische Arbeit gegen Antisemitismus darf sich nicht alleine auf Maßnahmen der Prävention von Antisemitismus bzw. auf den Umgang mit Täterinnen und Tätern konzentrieren. Sie muss auch die potentiell Betroffenen in den Blick nehmen und neben dem Betroffenenschutz auch Maßnahmen des Empowerments anbieten, beispielsweise durch spezifische Angebote für Betroffene und die Anerkennung jüdischer Identitäten im Schulleben (vgl. Bernstein 2020, 441). Mangelt es an solchen unterstützenden Strukturen, kann dies dazu führen, dass Betroffene nicht gegen das von ihnen erfahrene Unrecht angehen, es banalisieren oder gar nicht erst als solches zu erkennen wagen. Sie sollen vielmehr dazu befähigt werden, bisher erfahrene und erduldete Formen der Diskriminierung aus einer gestärkten Position neu zu bewerten und selbstbewusst dagegen anzugehen.

Anregungen für Ansätze des Betroffenenschutzes und des Empowerments:

  • Transparenz über Ansprechpersonen
  • Begleitung und Beratung durch Vertrauenspersonen
  • geschützte Räume des Austauschs 
  • theaterpädagogische Angebote, bildende Kunst, kreatives Schreiben

Praxisbeispiel

In einigen Städten nehmen Grundschulen an der Aktion „Singpause“ teil, wo unter anderem das Lied „Hevenu Shalom Alechem“ („Wir wünschen Frieden für alle“) gesungen werden soll. Einzelne Eltern beschweren sich darüber, dass das Lied gesungen wird. Zusätzlich weigern sich Kinder beim Üben, dieses Lied zu singen, andere Kinder sind verunsichert.

Problem

Das einzige jüdische Lied der Singpause – von der Intention des Textes ein dezidiertes Friedenslied, das die Sehnsucht nach Weltfrieden beschreibt – stößt bei Eltern und deren Kindern auf Ablehnung, die bis zur Verweigerung geht, das Lied singen zu wollen. 

Fachliche Ebene

Die Schulleitung sollte klar Stellung beziehen: im Sinne einer demokratischen, am Grundgesetz orientierten Schulkultur und im Sinne einer interreligiös toleranten Grundhaltung. 

Die Elternarbeit sollte konsequent in die antisemitismuskritische Schulkultur integriert werden. In Gesprächen mit den Eltern kann eine fragende, interessierte Grundhaltung dazu beitragen, Reflexionsprozesse anzustoßen.

Informieren Sie das Kollegium über die Situation. Ermöglichen Sie einen kollegialen Austausch. 

Thematisieren Sie das Ereignis im Unterricht mit den Schülerinnen und Schülern. Achten Sie dabei auf eine altersgemäße Sprache und Form.

Im gesamten Prozess sollte deutlich werden, dass schulische Erziehungs- und Bildungsarbeit auf allgemeinen Werten wie Demokratie, Menschenrechten, Vielfalt und Toleranz fußt und dies in den Schulprogrammen generell fest verankert ist. 

Es ist sehr wichtig, dass Schülerinnen und Schüler Ansprechpersonen und Vertrauenspersonen in den Schulen haben, um über ihre Konflikte und Erfahrungen sprechen zu können. Hierfür braucht es auch geschützte Räume, in denen der Austausch stattfinden kann.

Generell sollte man sich immer bewusst machen, dass auch nichtjüdische Menschen von Ausgrenzung und antisemitischer Gewalt betroffen sein können. Die Annahme, Antisemitismus könne es nur dort geben, wo auch Jüdinnen und Juden (erkennbar) seien, ist falsch. So ist etwa der als Beleidigung gebrauchte Ausruf “Du Jude” immer antisemitisch, eben aufgrund der intendierten Abwertung. Er trifft aber in vielen Fällen auch nichtjüdische Schülerinnen und Schüler.

Praxisbeispiel

Beispiel: „Du Jude!“

Problem:

Völlig unabhängig von der Präsenz jüdischer Kinder gilt: Der Gebrauch des Wortes „Jude“ ist in einer solchen Verwendung herabwürdigend und abwertend gemeint. Die hier mit dem Wort „Jude“ verbundenen antisemitischen Stereotypen tradieren das Gedankengut des Antisemitismus. Dabei geht es um die Vorstellung, dass „Juden“ negative Eigenschaften haben und vielfach als Verräter gesehen werden.

Was sollte ich als pädagogische Fachkraft tun?

Als pädagogische Fachkraft muss ich durch klares zurückweisendes Einschreiten (s. Schritte der Intervention) und Unterbinden die Fortsetzung antisemitischen Denkens und Verhaltens in der konkreten Situation verhindern. 

Der Vorfall muss anschließend auch im Unterricht im Klassenverband bzw. im Kollegium mit den Schülerinnen und Schülern thematisiert werden. Hilfreich ist es, hierbei im Dialog nach dem Grund und den Hintergründen zu fragen, um mit der Klasse oder dem Kurs in einen Dialog über respektvolles Verhalten zu kommen. Dabei muss am Ende klar werden, dass es keinerlei Raum für Abwertung, Diskriminierung und Hetze in der Schule gibt, dass das Verhalten der „Täter“ missbilligt und dass Antisemitismus konsequent weiterhin unterbunden wird. 

Nehmen Sie als Lehrkraft zudem Ihre Fürsorgepflicht für jüdische Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte wahr und bieten Sie den Betroffenen auch nach der Situation Ihre Unterstützung an.