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Didaktische Grundlagen der Erinnerungskultur

Didaktische Grundlagen

Die didaktischen Grundlagen der Erinnerungskultur ergeben sich aus den unterschiedlichen Zugängen von einzelnen Personen, Gruppen, Völkern und Nationen zu ihrer eigenen Geschichte und zur Geschichte anderer. Hierzu gehören die vielfältigen, inzwischen auch öffentlichen Debatten um individuelles und kollektives, kultursensibles und reflexives Erinnern. Das Ziel einer stabilen und engagiert vertretenen demokratischen Grundhaltung erfordert schließlich Nachhaltigkeit und Gestaltungskompetenz.

Erinnern ist ein individueller Vorgang und bezeichnet ein sich aus eigenem subjektivem Erleben oder aus der Begegnung mit unmittelbaren Zeuginnen und Zeugen ihrer jeweiligen Zeit entwickelndes subjektives Verständnis von Vergangenem. Als Erinnerungskultur wird individuelles Erinnern zu einem kollektiven Konstrukt und damit zu einer gesellschaftlichen Aufgabe – auch für Schulen.

Der Aufbau einer Erinnerungskultur knüpft an dem subjektivem Verständnis an und umfasst daher viele verschiedene Zugänge, Gefühle und Wertungen, mit denen Menschen erklärten Geschehnissen und Orten der Erinnerung sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen begegnen. So verbindet sich Erinnerungskultur zugleich mit übergeordneten gesellschaftlichen Normen und Werten, die eine demokratische Gesellschaft prägen und in ihr unverzichtbar sind.

Opfer stehen ebenso wie Täterinnen und Täter als Individuen und als Gruppen im Zentrum der Aufmerksamkeit von Erinnerungskultur. Erinnerungskultur kann den Blick auf das Leben, die Hoffnungen und Pläne von Menschen eröffnen, die gefoltert und ermordet wurden, nicht weil sie etwas Böses getan hatten, sondern weil sie das waren, was sie waren: in der Zeit des Nationalsozialismus als jüdischstämmige Menschen, als Sinti und Roma, als Homosexuelle oder als Menschen, die es einfach nur wagten, Unmenschlichkeit beim Namen zu nennen. Erinnerungskultur kann jedoch auch Einblicke in die Persönlichkeiten und in die Motive derjenigen eröffnen, die andere Menschen diffamierten, quälten und mordeten.

Erinnerungskultur baut eine Brücke zwischen der individuellen Wahrnehmung von Erinnertem und Erinnerbarem, Dokumentiertem und Dokumentierbarem, entfaltet sich mit dem zunehmenden Wissen und Verständnis historischer und politischer Zusammenhänge und entwickelt die für eine umfassende historisch-politische Bildung erforderlichen kritischen Kompetenzen.

Erinnerungskultur erfordert auch angesichts der multikulturellen Zusammensetzung heutiger Lerngruppen Antworten auf die Frage, wie beispielsweise die Erinnerung an den Nationalsozialismus gegenüber Jugendlichen mit beispielsweise nord- oder zentralafrikanischer, russlanddeutscher, türkischer oder kurdischer Familienbiografie als „Entliehene Erinnerung“ (Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003) anschlussfähig wird.

Die Berichte der Medien über das Leid von Flüchtlingen und die Missachtung von Menschenrechten in manchen Staaten verleihen dieser Frage eine weltweite Dimension. Erinnerungskultur als Grundlage demokratischer Bildung und Erziehung wird sich mit den verschiedenen individuellen und kollektiven Erinnerungskulturen befassen und erfahren, dass sich das Beispiellos-Beispielhafte in Auschwitz und Bergen-Belsen, aber auch in Darfur und Ruanda, in Sarajevo und Srebenica gleichermaßen in unbedingter Unmenschlichkeit gründet. Gleichzeitig eröffnen sich Wege, sich gegen Ausgrenzung und „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ zu engagieren.

In unserem zusammenwachsenden Europa und der globalisierten Welt stellen sich weitere Fragen, die Schulen einbeziehen können:

·Warum werden bestimmte Ereignisse in den verschiedenen Ländern unterschiedlich wahrgenommen?

·Welche Bilder verbreiten wir aus welchen Gründen in unseren Erzählungen von Ereignissen in anderen Weltregionen und welches Bild haben andere von uns?

·Welchen verschiedenen Anlässen und Kulturen der Erinnerung begegnen wir heute in unserem Alltag und in unseren Schulen?

Als Kernkompetenz reflexiver Erinnerungskultur darf man die für Demokratiepädagogik und Bildung für nachhaltige Entwicklung entwickelte Gestaltungskompetenz bezeichnen (Gerhard de Haan und Dorothee Harenberg). Gestaltungskompetenz greift die Komplexität und Vielfalt unserer Welt auf. Sie konkretisiert die vier Kernkompetenzen der Kernlehrpläne, Sach-, Urteils-, Handlungs- und Methodenkompetenz, durch den nachhaltigen und an den Werten der Menschlichkeit, der Demokratie und der Vielfalt orientierten Umgang mit zugänglichem oder ggf. noch zu erschließendem Material.

Der Erwerb von Gestaltungskompetenz bewirkt, dass Schülerinnen und Schüler das, was sie in der Schule lernen, in lokale und globale Zusammenhänge einordnen und auf das erworbene Fachwissen beziehen. Gleichzeitig ist informelles und nicht-formelles Lernen einbeziehen, denn Kinder und Jugendliche machen auch außerhalb des Unterrichts, beispielsweise in einem außerunterrichtlichen Ganztagsangebot, in einer Geschichtswerkstatt, beim Besuch eines Theaters oder einer Gedenkstätte oder über Fernsehen und Internet und in Gesprächen mit Eltern und Großeltern, bedeutsame Erfahrungen.

Mit den „Fragen eines lesenden Arbeiters“ thematisierte Bertolt Brecht die sozialen Differenzierungen des Zugangs zur Bewertung historischer Vorgänge. Heute wird darüber hinaus auch immer wieder ein kultursensibler Zugang diskutiert. Etwas in den Hintergrund gedrängt erscheint als dritter Zugang der geschlechtsspezifische Zugang zur Geschichte, obwohl dieser Zugang in den verschiedenen politischen Debatten unserer Zeit immer wieder eine zentrale Rolle spielt.

Wenn wir die historischen Dokumentationen in den Medien anschauen, stellen wir immer wieder fest, dass Geschichte offenbar etwas ist, das von einzelnen Männern gestaltet wird. Geschichte von Frauen wird oft genug ausschließlich als eine Entwicklung betrachtet, in der Frauen der Gegenstand von Geschichte sind, beispielsweise bei der ‚Gewährung‘ des Frauenstimmrechts. Mitunter erscheinen die Frauen, die das Frauenstimmrecht und andere Rechte durchgesetzt haben, als eher begleitende Personen in der Geschichte. So sind auch die „Väter“ des Grundgesetzes eine gängige Redewendung, die damals mitwirkenden vier „Mütter“ scheinen jedoch kaum der Erwähnung wert.

Hinzu kommen Stereotypisierungen, die sich auch heute noch in Geschichtsbüchern und Geschichtsdarstellungen wiederfinden. Frauen erscheinen als Aktive im unmittelbaren häuslichen Bereich, jedoch kaum darüber hinaus. Auch in der Geschichte der Konzentrationslager gilt dies: Auf eine Alma Rosé und eine Edith Stein kommen Legionen von Männern, deren Erinnerung gepflegt wird. Frauen werden vielleicht bei einer Gedenkfeier in Ravensbrück wahrgenommen, nicht jedoch in all den anderen Gedenkorten der Menschenfeindlichkeit.

Eine wichtige Aufgabe von Erinnerungskultur ist es, Stereotype zu dekonstruieren, d.h. Geschlechterzuschreibungen, auch in der Darstellung und Rezeption von Geschichte, in ihren historischen Zusammenhang zu stellen und sie zu relativieren. Wer ein demokratisches Geschichtsbewusstsein fördern möchte, muss gleichermaßen männliche und weibliche Perspektiven erfassen. Es reicht nicht aus, eine zunehmende Präsenz von Frauen „in der Geschichte“ zu beschwören. Erforderlich ist es, die historischen Entwicklungen zu verstehen, die dazu führten, dass es jetzt eine Kanzlerin in Deutschland, vier Ministerpräsidentinnen in den Ländern, aber auch Frauen in den Führungsetagen der EU, der internationalen Geldpolitik und in Chefetagen erster Unternehmen im Global Playing gibt. Gleichzeitig erforderlich ist ein Blick darauf, dass diese Entwicklungen auch wiederum oft nur einzelne Persönlichkeiten betreffen, jedoch noch nicht eine gesamtgesellschaftliche Veränderung beschreiben. Diese Entwicklung zu gleichberechtigter Teilhabe bleibt eine Zukunftsaufgabe für den demokratischen Staat.  Gerade für die Analyse der Vergangenheit zeigt der ‚Genderblick‘ Konturen der Anteile beider Geschlechter an den Entwicklungen in der Geschichte: sei es als Opfer, als Täterin oder Täter, als Agierende und Leidende, als Hervorbringende oder Unterdrückende auf dem Weg zu einer nachhaltigen und stabilen Demokratie.

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