
Gestärkt durch das Leben gehen
Mit Gefühlen umgehen können, Selbstwert erkennen, Respekt zeigen – all das fördert das neue nordrhein-westfälische Schulprogramm „MindOut“. Wie kommt es bei Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrkräften an? Ein Besuch an einer Schule in Oberhausen mit emotionalen Einblicken.
[Schule NRW 03-25]
Still ist es geworden im Klassenraum der 10c des Elsa-Brandström-Gymnasiums in Oberhausen. Auf den Tischen liegen bunte Gesichter - vergrößerte Versionen der Handy-Emojis, mit denen vor allem jüngere Menschen ihren Nachrichten an andere gerne ein Symbol für ihre Stimmungslage beimischen. Lehrer Christoph Koch hat die Ausdrucke mit den lustigen Konterfeis gerade verteilt. Konzentriert und nachdenklich laufen seine Schülerinnen und Schüler nun durch den Raum, steuern die Tische an, greifen sich die Emojis. Passend zur Laune des jeweiligen Gesichts berichten sie mit leisen Stimmen von Erlebnissen und Emotionen der vergangenen Tage. Von Spaß und Schönem. Von Wut und Abscheu. Von Niedergeschlagenheit, ungläubigem Staunen oder geflossenen Tränen.
Es sind intensive Momente wie diese, die das neue Programm „MindOut“ so wertvoll machen – Momente, in denen sich Kinder und Jugendliche ihren Gefühlen stellen, um sie bewältigen und an ihnen wachsen zu können. Die jungen Menschen sollen lernen, negative Emotionen zu reduzieren, um ihr Wohlbefinden zu steigern. Wie sich sozial-emotionale Schlüsselkompetenzen stärken lassen, zeigt sich an diesem kalten Wintervormittag in der Ruhrgebietsstadt. „Ich lerne immer besser, mit Dingen und Ereignissen umzugehen“, erzählt Niklas, 15, der wie alle anderen schon zwei MindOut-Stunden hinter sich hat. „Mir hilft es, auf andere Menschen einzugehen. Wenn man selber offen ist, ist das einfacher, da die andere Person dann auch offener ist“, sagt Mustafa, 15.
Erfolgreiches Konzept aus Irland
MindOut. Das ist ein Konzept, das in Schulen Irlands bereits seit längerer Zeit erfolgreich bei der Vermittlung wichtiger sozialer Fertigkeiten zum Einsatz kommt. Ricarda Steinmayr, Professorin für Pädagogische und Differentielle Psychologie an der Technischen Universität (TU) Dortmund, hat das Training nach Deutschland geholt. Mit Unterstützung des nordrhein-westfälischen Schulministeriums startete es in den vergangenen Wochen in Nordrhein-Westfalen an 80 Schulen. Die TU Dortmund begleitet das Evaluationsprojekt wissenschaftlich. Das Landesunternehmen Westlotto fördert es mit 250.000 Euro.
Im Frühjahr sollen weitere nordrhein-westfälische Schulen eingeladen werden, die am Startchancen-Programm teilnehmen und somit als Schulen in herausfordernden Lagen gezielt unterstützt werden. „Wir sind dabei, noch viel mehr Wert auf die Förderung der Basiskompetenzen unserer Schülerinnen und Schüler zu legen – und dazu gehören nicht nur das Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch die sozial-emotionalen Kompetenzen in nicht selten belastenden Zeiten“, betont Schulministerin Dorothee Feller. „So haben die Problemlagen der vergangenen Jahre – etwa die COVID-Pandemie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine oder auch Bedrohungen für unsere Demokratie wie Extremismus, Antisemitismus oder Fake News – dazu beigetragen, dass die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zunehmend leidet. Auch Themen wie Gewalt und Aggressionen, nicht nur an Schulen, fordern unsere Gesellschaft heraus. MindOut kann Schülerinnen und Schüler unterstützen, Herausforderungen mit einem stabilen Selbstwertgefühl zu bewältigen.“
Schlüsselkompetenzen werden gestärkt
Im Zentrum des Programms steht die Förderung von fünf Schlüsselkompetenzen des sozialen und emotionalen Lernens: Selbstbewusstsein, Selbstorganisation, soziales Bewusstsein, Beziehungspflege und verantwortliches Entscheidungsverhalten. Diese werden in 13 Sitzungen vermittelt. Regelmäßig wird dabei ein Kernthema mit zahlreichen Übungen und kurzweiliger Verwendung beispielsweise von Videos und Audiofiles behandelt. Die Sitzungen tragen Namen wie „Gedanken hinterfragen“, „Unterstützung durch andere“, „Sich in andere hineinversetzen“, „Mit Konflikten umgehen“ oder „Helfen und sich helfen lassen“.
MindOut beschränkt sich dabei nicht nur auf eine Anwendung in Klassen- oder Kursverbünden, sondern bietet auch Materialien und Aktivitäten, die für das Wohlbefinden aller am Schulleben Beteiligten im Alltag förderlich sind. Um all diese Möglichkeiten gezielt einsetzen zu können, schult ein Team der TU Dortmund unter Leitung von Ricarda Steinmayr die beteiligten Lehrkräfte. Die Geschulten erhalten nach Abschluss ein MindOut-Zertifikat, das sie als qualifizierte Trainerinnen und Trainer im schulischen Betrieb ausweist.
Einer davon ist Christoph Koch. Der gebürtige Franke, den es nach seinem Lehramtsstudium in Köln in den Ruhrpott verschlagen hat, liebt seine Arbeit als Sport- und Erdkunde-Lehrer, aber er hat sich auch bewusst und begeistert für den Erwerb der Zusatzqualifikation entschieden. „Meine Klasse ist mir sehr wichtig, ich will meinen Schülerinnen und Schülern deshalb auch in manchmal sensibleren Fragen helfen“, sagt der 39-Jährige. „Und ich wünschte mir, dass die Beschäftigung mit sozial-emotionalen Kompetenzen überhaupt noch viel mehr Raum an unseren Schulen einnimmt.“
Die Augen seiner Schülerinnen und Schüler fallen derweil auf einen Flipchart. Darauf sind die Umrisse eines Menschen zu sehen, gezeichnet von Kochs Kollegin Yvonne Riesener, ebenfalls MindOut-Trainerin. „Hätte ich das gezeichnet, könntet ihr jetzt nicht viel erkennen“, gesteht Koch und lacht. Seine Klasse soll identifizieren, an welchen Stellen des menschlichen Körpers Emotionen Reaktionen hervorrufen können. Schnell melden sich Liliana, Mustafa oder Fynn – und schnell ist klar, dass es kaum einen Körperbereich gibt, der nicht auf Gefühle und Stimmungen anspricht. Mal kribbelt es hier, mal drückt es da, mal macht sich ein Zittern breit, mal färbt sich der Kopf rot. Christoph Koch zeichnet überall seine Kringel ein. „Es ist schon etwas dran, wenn man sagt, dass einem etwas auf den Magen schlägt oder dass man Schmetterlinge im Bauch hat“, sagt er. Selbst wenn jemand denkt, er könne alle emotionalen Situationen regulieren und kontrollieren, gibt der Körper in der Regel Signale für das seelische Befinden an seine Umwelt ab. Nachdem die Schülerinnen und Schüler eine vom Band abgespielte Atemübung als eingebaute Ruhephase absolviert haben, meint Fynn, dass diese Form der Entschleunigung nichts mit ihm gemacht und er überhaupt nichts gefühlt habe. „Doch Fynn, du hast gelacht“, sagt Christoph Koch freundlich, „auch das ist eine Reaktion – und auch die ist in Ordnung.“
Nachhaltige Wirkung
Alice Bienk, Leiterin des Elsa-Brandström-Gymnasiums, ist stolz, dass ihre Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte MindOut mit positiver Bereitschaft annehmen: „Das Programm ist eine echte Neuerung an unseren Schulen, die viel bewirken kann und bei uns auch schon einiges bewirkt hat.“ Im Jahrgang 10 sind die Kurse bereits fester Bestandteil. Eine Ausweitung auf weitere Klassen und Jahrgangsstufen ist geplant, um die Inhalte zu wiederholen und zu festigen. „Zudem wollen wir bald allen Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit geben, diese Zusatzqualifikation zu erwerben“, sagt die Schulleiterin. Dass die Unterbringung des neuen Angebots im Unterricht eine zeitliche Investition darstellt, weiß sie auch. Für die 13 MindOut-Wochen mit jeweils einer Schulstunde müssen eben – wie auch unter anderem seitens des Schulministeriums gewünscht – bisweilen andere Schwerpunkte gesetzt werden. Um die Verantwortung für das Programm auf möglichst viele Schultern zu verteilen, arbeiten die Lehrerinnen und Lehrer eng miteinander. „Das klappt gut“, bestätigt Christoph Koch, „bei uns allen stößt diese Umschichtung auf Verständnis, denn schließlich erleben auch alle den Mehrwert von MindOut.“
Sollten doch mal Zweifel aufkommen, ob die Innovation gemeinsam gestemmt werden kann, hilft ein Blick auf die Wände der Schule im Eingangsfoyer. Dort hängt ein von Schülerinnen und Schülern gestaltetes Fliesenbild – mit den Worten: „Wertschätzung“, „Respekt“, „Gemeinschaft“. Daneben ein Spruch des Dalai Lama: „Respektiere dich selbst, respektiere andere und übernimm Verantwortung für das, was du tust.“ Es klingt beinahe so, als hätte das geistliche Oberhaupt der Tibeter diesen Satz eigens für das „Elsa“ und dessen besonders ausgeprägten Gemeinsinn ausgesprochen.
Autor: Frank Lehmkuhl, Ministerium für Schule und Bildung NRW
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